Wieder ein Grenzübertritt - der vierzehnte auf dieser Reise. Was uns anfangs in Aufregung versetzte, hat sich mittlerweile beinahe zur gähnenden Routine entwickelt. Zwischen Kolumbien und Ecuador verläuft die Prozedur wie gehabt: Ausreisestempel auf kolumbianischer Seite besorgen, Zollpapiere für Lucy abgeben, Einreisestempel in Ecuador in Empfang nehmen, Einfuhrpapiere für Lucy ausstellen lassen. Dreieinhalb Stunden dauert das ganze - gääähn!!!
Neu ist die Höhe, auf der wir Länder wechseln: die Grenzstadt Ipiales nahe der extravaganten Marienwallfahrtskirche Las Lajas liegt auf knapp 3000 Metern - wenn das mal keine Abwechslung ist. Und es geht weiter bergauf. Die Panamericana schraubt sich auf kühle 3400 Meter hoch vorbei an beinahe 6000 Meter hohe Vulkane. Sie durchschneidet ein gewaltiges Bergland, das uns in den nächsten Monaten nach Süden hinunter begleiten wird – die Anden. Von Venezuela bis Patagonien zieht sich dieses längste Kettengebirge der Welt und es ist - in gewisser Weise - auch das höchste: Der 6267 Meter hohe Chimborazo hier in Ecuador ist durch den äquatorialen Wulst der Erde 2152 Meter weiter vom Erdmittelpunkt entfernt als der Mount Everest.
Im kleinen Städtchen Otavalo finden wir (das sind immer noch Haye, Willeke, Nils, Anke, die kleine Maya, Sabine und ich) für unsere drei Fahrzeuge auf dem Parkplatz einer wunderschönen Hazienda
einen Stellplatz für die Nacht. Seit drei Wochen sind wir nun schon im Konvoi unterwegs, inzwischen weniger aus Gründen der Sicherheit, sondern, weil das gemeinsame Reisen einen heiteren,
angenehmen Eigenrhythmus entwickelt hat: auf der Straße fährt jeder seinen Stiefel. Beim Erklimmen steiler, endloser Paßstrassen bestimmen die Fahrzeuge den Takt des Vorankommens (Landcruiser
„Bruce“ eilt voran, unsere Lucy qualmt gemächlich hinterher, Bulli „Goldie“ quält sich weit abgeschlagen), Pinkelpausen lassen sich auch nicht recht synchronisieren. Wir verlieren uns aus den
Augen, doch am Ende des Tages finden wir immer wieder zusammen, bauen ein gemeinsames Lager auf, kochen abwechselnd und essen an unseren zusammengestellten Klapptischen. Selbst ein wenig
charmanter Stellplatz an einer Tankstelle verliert in dieser geselligen Runde etwas von seiner asphaltgrauen Trostlosigkeit.
Otavalo ist über Ecuadors Landesgrenze hinaus bekannt für seinen Kunsthandwerksmarkt. Im Ort und seinen umliegenden Dörfern weben Indigenas wunderschöne Stoffe und verkaufen sie auf dem Plaza de los Ponchos als Decken, Teppiche, Schals und … klar … Ponchos. Die Otavaleños kleiden sich traditionell. Die Frauen tragen schmuckvolle Blusen, schwarze, lange Röcke, seitlich geknotete Stolas und gefaltete Stoffe auf dem Kopf, die Männer halblange, weiße Hosen mit steiler Bügelfalte, Ponchos und Melone über ihrem zum Zopf geflochtenen Haar. Der Markt zieht Busladungen von Touristen an, die in einer Tagestour aus Quito herangekarrt werden. Das Warenangebot hat sich dieser Zielgruppe angepaßt. Die Preise sind verführerisch niedrig, am Ende des Tages kehren wir mit vollen Plastiktüten zu Lucy zurück.
An diesem Abend feiern wir Abschied voneinander mit einem leckerem Abendessen, Wein und Tequilla. Morgen trennen sich die Wege von Lucy, Bruce und Goldie. Wir haben uns liebgewonnen auf diesem
gemeinsamen Reiseabschnitt zwischen Panama und Ecuador, am Ende fallen Tränen.
Bis Quito sind’s weniger als 100 Kilometer. Entlang der Strecke überquert man den Äquator. Das ist ja nun schon ein besonderer Höhepunkt auf dieser Reise, möchte man meinen. Vor Monaten
passierten wir den nördlichen Polarkreis, dann den nördlichen Wendekreis, nun also die – im wahrsten Sinne des Wortes – herausragendste Linie unseres Planeten. Allein … Sabine und ich verschlafen
die Überquerung selbiger, bzw. verquatschen sie; plaudern über die gemeinsamen Wochen mit Haye, Willeke, Nils und Anke und … merken erst 20 Kilometer hinterm Äquator, daß wir daran
vorbeigerauscht sind.
Quito - Hauptstadt von Ecuador, anderthalb Millionen Einwohner - liegt auf dünnluftigen 2800 Metern Höhe. Wir mühen uns durch geschäftige Straßen in die zum Weltkulturerbe ernannte koloniale Altstadt und mieten uns am Plaza Santo Domingo für drei Nächte im Hotel Real Audencia ein. Unser Zimmer überblickt die alte, quadratische Plaza, an deren südöstlicher Seite sich die Türme der im 17. Jahrhundert erbauten Kirche Santo Domingo erheben – die Aussicht entschädigt für den Straßenlärm in der Nacht und einen grauenvollen Kaffee zum Frühstück.
1526 kamen die Spanier in dieses von Vulkanen eingeschnürte Tal und gründeten auf den Ruinen einer alten Inkasiedlung die Stadt. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, welche Gottheit in Zukunft
die bestimmende unter den Eingeborenen zu sein hat, errichteten sie innerhalb weniger Jahrhunderte in missionarischem Eifer prunkvolle Kirchen und Klöster. Mit dem Schweiß der Inkas bauten sie
pompöse Kathedralen, mit ihrem Gold schmückten sie prächtige Altäre. Es ist dieselbe tragische Geschichte, die uns seit Mexiko begleitet: die Geschichte von Vernichtung, Vertreibung und
Unterdrückung einer Jahrhunderte alten Zivilisation und die der gleichzeitigen Neuerschaffung einer katholischen Kultur, welche sich glanzvoller und grandioser zu präsentieren scheint als jene
des alten Europas.
Wir flanieren durch Museen, Gotteshäuser und Klosteranlagen, sitzen auf barocken Stufen und beobachten das Treiben in schmuckvollen Plazas, wo Geschäftsleute in Anzug und Krawatte am Handy
hängen, während sie ihre Schuhe von Straßenkindern für ein Paar Centavos putzen lassen.
Gebückte Indigenas betteln vorbeieilende Touristen um eine milde Gabe an, junge, verliebte Mestize schmusen auf den Simsen feudaler Brunnenanlagen. Wir besteigen den Hügel El Panecillo, auf dem die Statue der Jungfrau von Quito thront und überblicken das endlose Häusermeer einer Stadt, die – wie keine andere bisher - für die kulturelle und wirtschaftliche Zerrissenheit Lateinamerikas zu stehen scheint.
Einen halben Tag sind wir damit beschäftigt, eine vertrauenswürdige und bezahlbare Tour auf die Galapagos Inseln zu finden. Es ist Hochsaison, alle guten Schiffe sind ausgebucht, doch am Ende
haben wir Glück: die Anzahlung zweier US-amerikanischer Touristen ist seit einer Woche überfällig, wir kriegen die begehrten Tickets. In 14 Tagen beginnt der Trip. Wir haben Zeit für eine
Rundfahrt durch das zentrale Hochland Ecuadors.
Von Quito sind es 55 Kilometer über die Panamericana zum höchsten aktiven Vulkan der Erde, dem schneebedeckten Cotopaxi. In der Sprache der Cayapa bedeutet Cotopaxi „Hals der Sonne“ und wenn wir den Gipfel zu sehen bekämen, hätten wir vielleicht eine Ahnung, wie die Eingeborenen der Region zu diesem Namen kamen – nur leider bekommen wir ihn nicht zu sehen. Wieder ein Vulkan, der sich vor uns widerborstig in Wolken verhüllt. Was ist das nur für eine verzwackte Geschichte zwischen uns und Vulkanen auf dieser Reise. Popocatépetl in Mexiko, Tolimán in Guatemala, Arenal in Costa Rica, nun also Cotopaxi in Ecuador – die gesamte Vulkangemeinschaft auf diesem Planeten scheint sich gegen uns verschworen zu haben (das ging schon vor dieser Reise los: vor zwei Jahren Fuji in Japan, vor zehn Jahren Tongariro in Neuseeland … ja haben die sich alle abgesprochen?). Eine holprige Piste bringt uns auf 3700 Meter Höhe zu einem Campingplatz unweit des Cotopaxi. Es fängt zu regnen an. Die Temperaturen fallen mit jedem Höhenmeter. Ein eisiger Wind pfeift uns um die Ohren – vom Berg keine Spur, verschluckt von grauen Wolken. Der Reiseführer schreibt, daß das zentrale Hochlandklima an den meisten Tagen des Jahres für klare Sicht an den gleichmäßig konischen Vulkankegel sorgt. Ha! Da können wir nur gequält lachen.
Die Nacht ist bitterkalt, kaum zu glauben, daß wir auf Äquatorhöhe sind. Die dünne Luft macht das atmen schwer und wird uns schlecht schlafen lassen. Was bleibt, bevor wir in unserer immerhin
halbwegs warmen Kabine das Licht ausschalten, ist die Hoffnung, daß am nächsten Morgen der Reiseführer recht behält. Er tut es nicht!
Wir ändern unsere Pläne: verlassen den Nationalpark Richtung Westen und steigen über enge Serpentinen hinauf auf knapp 4000 Höhenmeter zum abgelegenen Inkadorf Zumbahua. Es ist Freitag, am Samstag kommen hier die Inkas aus der umliegenden Region mit ihren Lamas dahergewandert und kaufen oder verkaufen auf einem schlichten Markt Gemüse und Fleisch. Im Garten eines Hotels unweit des nahegelegenen Kratersees Quilotoa stellen wir Lucy ab und verbringen den Abend im beheizten Restaurant des Hauses, wo wir für umgerechnet 7 Euro pro Person ein landestypisches dreigängiges Menü serviert bekommen. Als Hauptgang gibt es cuy, Hausmeerschweinchen - seit 5000 Jahren ein Leckerbissen der Hochlandindianer Ecuadors – über Holzkohle gegrillt. Dazu mote, gekochter Mais und eine Zwiebelsoße. Als Vegetarierin verzichtet Sabine auf die „Delikatesse“. Auch ich tu mich etwas schwer mit dem zähen, knochigen Fleisch. Ein schwerer chilenischer Rotwein verschafft Erleichterung.
Am nächsten Vormittag bummeln wir über den Markt von Zumbahua. Die Indigenas wirken spröder als in Otavalo, weiter im Norden. Ihre traditionelle Kleidung ist einfach und schmucklos, sie sprechen
untereinander in einer fremden Sprache, vermutlich Quechua, die Staatssprache des alten Inka-Imperiums. Sie begegnen uns reserviert, bestenfalls mit Verwunderung und sie reagieren meist abweisend
auf meine Bitte, ein Foto machen zu dürfen. Viele der Männer betrinken sich in kleinen Bars am Marktplatz, während sich ihre Frauen um die Geschäfte zu kümmern scheinen. Kinder mit verschmutzten
Gesichtern toben zwischen Verkaufsständen und halten verdutzt inne, wenn wir ihnen begegnen. Das archaische Treiben an diesem Ort verzaubert und verstört uns gleichermaßen. Wir fühlen uns wie
Eindringlinge in eine Welt weit ab vom geschäftigen Quito oder vom touristischen Otavalo, in der die Menschen ärmer aber auch weniger fremdbestimmt sind. Wir beschließen bald, Zumbahua wieder zu
verlassen.
Nun geht es über steinige, einspurige Piste durch wildes, rauhes Andenland, vorbei an armselige Bergdörfer, die Chugchilan heißen oder Sigschos oder gänzlich namenlos sind. Lucy müht sich tapfer und ohne Murren auf dieser schwierigen Strecke. Wir steigen ab auf 2300 Meter, dann wieder hoch auf 3800 Meter, wieder ab und wieder auf. Nach 150 Kilometern und 6 Stunden Fahrzeit erreichen wir die Panamericana und hoffen insgeheim, im Osten Cotopaxis schneebedeckten Gipfel kristallklar vor einem tiefblauen Himmel zu sehen. Der Wunsch erfüllt sich erwartungsgemäß nicht, die Verschwörung gegen uns bleibt bestehen. Die Nacht verbringen wir auf dem Parkplatz eines Hotels und schlafen trotz des Straßenlärms endlich mal wieder durch.
Am nächsten Tag tauchen wir östlich der Andenkette hinab Richtung oberes Amazonasbecken. War das Gebirge im Westen kantig, schroff und karg - gleichsam männlich, so erleben wir es hier weicher, sinnlicher, üppiger: weiblich. Die Straße folgt dem Rio Pastaza Canyon durch nebelumhüllte Bergregenwälder. Im kleinen Städtchen Baños entspannen wir unsere Glieder im 40 Grad heißen Wasser eines Thermalpools. Da ist gleich hinterm Ort ein Vulkan namens Tungurahua, aus dem seit Tagen eine steile Rauchsäule in den Himmel emporsteigt, berichten uns die Bewohner – nicht notwendig zu erwähnen, daß selbiger sich hinter einer dunklen Wolkenschicht verbirgt. Geschichte wiederholt sich …!
Im idyllischen Dschungelcamp Pecueño Paraiso des Schweizers Franko unterbrechen wir unsere Rundfahrt und nehmen
uns für drei Nächte ein Cabin mit heißer Dusche und Strom aus der Steckdose. Wir genießen die milden Temperaturen, die vergleichsweise niedrige Höhe, schweizerische Hausmannskost vom Feinsten und
selber gebackenes Brot. Heute abend z.B. gibt’s Kässpätzle mit Salat. 'Lecker, lecker' kann ich nur sagen… ach … und überhaupt: 'Freiheit für Meerschweinchen!'