Wer erinnert sich noch an die M/V Malaspina? Richtig: das war jene alte Fähre, mit der wir vor über vier Monaten Alaska Richtung Süden verlassen haben. Herrje, was hab ich geschimpft über dieses Schiff (nachzulesen in Vancouver Island). Vergeßt es, ich nehme alles zurück! Die Malaspina war ein prachtvoller Luxusdampfer verglichen mit der Rostmühle, die uns von der südlichen Baja California in 16 Stunden nach Mazatlan aufs Festland von Mexiko bringen soll. Ich weiß noch nicht mal den Namen von diesem alten Kahn. „Salvavidas“ notiere ich mir in mein Tagebuch, weil dieses Wort überall auf dem Schiff zu finden ist. Doch später erfahre ich, daß „Salvavidas“ „Schwimmweste“ auf spanisch heißt...! Aha! Immerhin gibt es diese also auf dem Pott – oder zumindest die dafür vorgesehenen Schränke. Rettungsboote gibt es auch. Doch an den Kranmechanismen, mit denen selbige zu Wasser gelassen werden, scheint der Rost die Räder und Lager für alle Ewigkeit fest zusammengeschweißt zu haben. Und übers Essen in der Cafeteria will ich mich an dieser Stelle aus Anstandsgründen nicht äußern. Sagen wir zusammenfassend mal so: beim jährlichen ADAC Fährentest wäre die „Salvavidas“ (belassen wir’s bei diesem Namen) aller Wahrscheinlichkeit nach mit ziemlichem Karacho durchgefallen …!
Mazatlan, 13 Kilometer oberhalb des Wendekreises des Krebses, ist größte Hafenstadt an der mexikanischen Pazifikküste. Sie wird in unseren Reiseführern als nicht besonders sehenswert beschrieben, und so halten wir uns hier nicht lange auf. Auf der Fahrt durch die staubigen Strassen der Stadt hinaus Richtung Osten zeigt sich uns ein anderes Mexiko, eines, welches weniger vom US-amerikanischen Tourismus gezeichnet ist, als auf der Baja: Die Menschen drehen sich nach unserem Fahrzeug um, Reklametafeln und Schilder sind ausschließlich spanisch beschriftet und im kleinen Supermarkt am Stadtrand, wo wir etwas Gemüse und Tortillas kaufen, tun wir uns mit der Verständigung ungleich schwerer. Jetzt wird es wirklich Zeit, daß wir eine Sprachschule besuchen.
Hinter Mazatlan beginnt der lange Aufstieg auf das zentrale Hochplateau Mexikos. Von Meereshöhe aus schraubt sich eine enge, kurvenreiche Strasse hinauf auf über 2.800 Meter. Serpentine um Serpentine bringt uns Lucy gutgelaunt in die Berge, als wäre die Strasse eine alte Freundin von ihr. Das Land ist unerwartet grün. Kiefern stehen so dicht beieinander, daß man fast von einem Wald sprechen kann. Rechts von uns öffnet sich streckenweise ein lotrechter Abgrund in die Tiefe, links steigt die Felswand auf wie eine Mauer. Die Aussichten über das zerklüftete Gebirge sind grandios, doch wir sind so mit dem Fahren beschäftigt, daß wir darüber hinaus nicht einmal auf die Idee kommen, ein Foto zu schießen – und das soll was heißen! Schwere Lkws in manchmal beängstigend klapprigem Zustand quälen sich in Schrittgeschwindigkeit über die Höhe oder aber brettern kamikazemäßig das Gefälle hinunter. In einer der zahllosen, unübersichtlichen Kurven kommt uns ein gewaltiger Sattelzug auf unserer Spur entgegen. „Ayyo“ (wie der Mexikaner zu sagen pflegt)! Beide reißen wir das Lenkrad herum, Lucy kommt von der Fahrbahn ab, links verfehlt uns der Lastwagen um Zentimeter, rechts droht uns der Abgrund in die Tiefe zu reißen, Staub und Geröll wirbeln auf, das GPS bricht aus der der Halterung, Sabines Cola light und mein Adrenalin schwappen über, heftiges gegensteuern, Asphalt unter die Räder kriegen, bremsen …, Lucy steht, wir atmen tief durch! Das ging noch mal gut! Andere hatten weniger Dussel. An jeder halbwegs unübersichtlichen oder gefährlichen Stelle stehen Kreuze am Fahrbahnrand, die an ein Unfallopfer gedenken. El Espinazo del Diablo, "des Teufels Rückrat" nennt der Mexikaner diese Strasse!
In El Salto auf alpinen Höhen verbringen wir die Nacht. Wir finden im Innenhof eines Hotels am Ortsrand einen sicheren Stellplatz. Die Hotelbesitzerin läßt uns sogar kurz in ein unbelegtes Zimmer, damit wir heiß Duschen können. Alle Luftdicht verschlossenen Behälter öffnen sich an diesem Abend mit einem deutlichen „pfffft“. Duschgel: „pfffft!“, Körperlotion: „pfffft!“, Olivenöl: „pfffft!“, halbvolle Weinflasche vom Vortag: „pfffft!“. Die Luft ist dünn hier oben, der schnelle Aufstieg erzeugt einen Überdruck in den Flaschen. Und als wir uns beide beim Einschlafen mit einem leisen „pfffft“ gute Nacht sagen, schieben wir das spaßeshalber mal nicht auf das obligatorische Bohnenmus vom Mittagessen… .
Die Strasse senkt sich wieder etwas ab und kommt auf Höhen um 2000 Metern zur Ruhe. Wir haben Mexikos zentrales Hochplateau erreicht und fahren durch eine eher karge Landschaft, in der das ganze Jahr über frühlingshaftes Wetter vorherrscht. Wenn es denn für wetterfühlige Menschen ein perfektes Klima gibt auf diesem Planeten gibt, dann hier. Die Winter sind mild, die Sommer warm mit etwas regen am Nachmittag. Selten Tagestemperaturen unter 20 Grad, selten über 30. Sabine neben mir bewegt sich nicht auf 2.000 Metern Höhe, sondern im 7. Himmel!
Am späten Vormittag erreichen wir Zacatecas. Bereits im Jahre 1546 von den Spaniern gegründet hat sich die Silberbergbaustadt durch die Jahrhunderte ihre koloniale Atmosphäre bewahrt. Krumme Gäßchen sind mit grobem Kopfstein gepflastert, Plazuelas sind gesäumt von Klöstern, Kirchen und prächtigen Casas histórcias. Wir bummeln stundenlang durch das zum Weltkulturerbe ernannte Zentrum, stehen fasziniert vor der in ornamentalem Dekor geradezu explodierenden Fassade der Kathedrale und entdecken an zahlreichen Marktständen und Freßbuden fremde Gerüche und Geschmäcker.
Ein Indio verkauft aus Tonkrügen, mit denen sein Esel beladen ist, ein Getränk, das uns neugierig macht: „Que es ese“, fragen wir, „was ist das?“ „Agua miel“ antwortet er uns – Honigwasser, lesen wir im Sprachführer nach. Das klingt harmlos, und auch, weil wir in einer so netten Runde mit Indios zusammenstehen – immerhin ist es unsere erste Begegnung mit den Menschen, welchen einst das ganze Land gehörte - kaufen wir einen Becher für 3 Pesos. Nun, … ähem, … Honig schmecken wir nicht, und das können wir auch gar nicht, denn Tage später werden wir erfahren, daß das Getränk aus einer Agavenart gebraut wird. Ich für mein Teil meine eher (und natürlich kann ich mich irren) einen Hauch feinherber Eselpisse herauszuschmecken …! Bei allem Respekt: das Gesöff ist grauenhaft. Doch da stehen wir nun, umringt von diesen freundlichen, erwartungsvollen Menschen, und würgen - anerkennend lächelnd - diese furchtbare Flüssigkeit herunter. Später bestellen wir in einer Bar zwei Tequilla und zwei Dosen Cola, um unseren Magen und unsere Geschmacksnerven wieder einigermaßen ins Lot zu kriegen.
Von einer alten Marktfrau kaufen wir eine Tüte nopales - frische, kleingeschnittene Kaktusblätter, die einen feinsäuerlichen Geschmack haben. Beim Fischladen gegenüber kriegen wir Garnelen und aus all dem (plus ein wenig Knoblauch, Zwiebeln, Olivenöl, Brühe, ein Hauch Butter und unserem letzten Parmesan aus den USA) zaubern wir abends in Lucy ein herrliches Risotto, das uns das agua miel vergessen läßt. Wir stehen hoch über der Altstadt auf dem Parkplatz eines Hotels und lauschen den nächtlichen Klängen Mexikos: Hundegebell, lärmende Motorengeräusche, in der Ferne eine mobile Lautsprecheransage (die akkustisch dem Sprechgesang eines arabische Muezzin recht nahe kommt), unser Parkplatz wird beschallt von einer endlos-CD mit grauenhaften Orchesterversionen alter Beatlesongs, ein Hahn in der Nachbarschaft krächst zur Unzeit so erbärmlich, das man hinausrufen möchte: „Gebt dem armen Vogel doch endlich ein Glas Wasser!“ Mexiko ist laut. Unser Unterwegssein durch dieses Land gleicht einem endlosen Rausch der Sinne: hören, sehen, schmecken, fühlen, riechen – alles ist eine Spur übersteuert. Das (sehr deutsche) Wort "Reizüberflutung" ist hier Programm: jeder Tag eine neue Entdeckungsreise - jede Entdeckungsreise ein neues Abenteuer - jedes Abenteuer eine neue Seite im Buch “Welt“... .
Als wir spät abends recht müde und recht selig vom langen Tag in unserem Alkoven liegen, bleibt eine Frage unbeantwortet: Ist es nun das Agavengetränk oder das Kaktusgewächs, was verantwortlich ist für dieses kaum vernehmbare „pffft“… ?!