Isolierte Inselwelten: Galapagos

Eine tropische Insel auf Äquatorhöhe stellt man sich zweifellos anders vor: da wachsen nämlich grüne Palmen an weißen Stränden vor einer türkisen See unter einem tiefblauen Himmel. Baströckchen tragende Schönheiten, deren kaffeebraune Brüste knapp von einer Blumengirlande bedeckt werden, begrüßen Dich mit einem charmanten „aloa“ und führen Dich an die Strandbar, wo Deine erste Pina Colada für diesen Nachmittag bereitsteht. Hier hingegen stehen blattlose Baumgerippe an einem schwarzen Strand vor einer kalten See unter einem grauen Himmel. Statt barbusige Mädchen begrüßen Dich urzeitliche Drachenwesen mit pockiger Haut, die Dir kein sinnliches „aloa“ entgegenhauchen, sondern knapp an Deinem Hosenbein vorbeispuken. Und – Himmel hilf -  von einer Strandbar ist auch weit und breit nichts zu sehen. Was, stellt sich mir die Frage, mag sich im Kopf desjenigen abgespielt haben, der vor langer Zeit diesem farblosen Eiland den blumigen Namen Floreana gab!

 

Mitten im Pazifik, rund 1000 Kilometer von Ecuadors Küste entfernt hat sich der Planet sein Experimentierfeld der Evolution eingerichtet, der Galapagos Archipel. Auf 7882 Quadratkilometern Boden spielt sich eine Schöpfungsgeschichte ab wie aus dem Lehrbuch:

 

Am Anfang steigt aus unterseeischen Vulkanen Masse an die Oberfläche, Lava, die bizarr zu Kegeln und Platten erstarrt. 19 Inseln und Inselchen formen sich inmitten eines gewaltigen Meeres. Irgendwann bildet sich auf den verkrusteten Böden eine karge Pflanzenwelt, vielleicht im Gefiederdreck und Kot der Vögel eingeschleppt, die ihrerseits zwischen schwarzen Basaltklippen einen idealen Nistplatz entdecken. Ihnen folgen Reptilien aus ihrer kontinentalen Küstenheimat. Sie treiben auf Stämmen und Gesträuch hinaus in den stillen Ozean und hinein in die isolierte Lavawelt. Die Lebensumstände in dieser lebensfeindlichen Abgeschiedenheit erfordert extreme Anpassung und Selektion, die in Jahrmillionen zu neuen Spezies und Untergruppen führt. Das Fehlen von natürlichen Feinden und Konkurrenten erlaubt es den Tieren, jegliche Scheu abzulegen. Sie haben keinen Fluchtinstinkt. Heute trittst Du, wenn Du nicht aufpaßt, auf jeden Meter in eine sich sonnende Echse oder einen brütenden Vogel.

 

Auf der „Estrella del Mare“ erkunden wir eine Woche lang diese Inselwelten. Wir beziehen eine kleine Doppelkabine mit Naßzelle auf dem zweiten Oberdeck mit Blick auf einen verkleideten Bootsträger. Acht solcher Kabinen gibt es auf dem Schiff (zwei davon haben die versprochene Sicht auf die freie See), 16 Tourgäste werden von 7 Crewmitgliedern rund um die Uhr versorgt. Die fehlende Strandbar auf Floreana geht in Ordnung: die Estrella del Mare ist in dieser Hinsicht bestens ausgestattet. Dreimal am Tag werden wir kulinarisch verköstigt. Da stehen zwei Köche in einer Küche, welche nur minimal mehr Raum bietet als unsere Kochnische in Lucy. Und dennoch ist das Essen anständig. Zwar stellt sich nach einigen Tagen jenes klassische Kantinensyndrom ein, wo Du glaubst, alles schmeckt irgendwie gleich - Garnelen, Sckokokuchen, Hähnchen, Obstteller, Tomatensuppe - doch die Ankündigung Vorausreisender, man werde nie so richtig satt, erfüllt sich nicht. Billy, unser Führer, ist ein alter Routinier auf Galapagos. Ihm mangelt es nicht an umfassendem biologischem und geologischem Wissen und auch nicht an Selbstbewußtsein. Er ist charmant und gelegentlich gelangweilt.

 

Engländer, Amerikaner, Israelis, Schweizer und Deutsche teilen sich den engen Raum auf dem Boot – und das funktioniert ganz wunderbar. Abends nach einem langen Tag sitzen wir gemeinsam im Barbereich der Estrella del Mare, spielen Karten oder plaudern über Blaufußtölpel, Schnorcheltechniken und Kochrezepte  – in einer stillen Absprache klammern wir politische Themen aus.

 

Der Tag beginnt früh auf Galapagos. Nach einer rauhen Nacht zwischen Pazifikwellen, in der wir Dank wirkungsvoller Pillen gegen Seekrankheit dennoch durchschlafen, sitzen wir bereits um 7 Uhr morgens am Frühstückstisch. Die Rühreier schmecken nicht unähnlich der Pasta vom Vorabend – aber das hatten wir schon. Eine dreiviertel Stunde später besteigen wir ein Dingi mit Außenborder und steuern auf eine der Inseln zu. „Wet“- oder „Drylanding“ bestimmen das Schuhwerk für die Exkursion. Bei einer „Drylanding“ parkt Rochillio, der Dingikapitän, an einer Klippe. Wir können trockenen Fußes an Land springen. Bei einer „Wetlanding“ enden wir an einem Strand, wo wir die letzten Meter durchs bis zu knietiefe Wasser waten.

 

Jede Insel wartet mit einer anderen Überraschung auf: auf North Seymore beobachten wir Fregattenvögel und Blaufußtölpel. Zur Paarungszeit blasen Fregattenvögel-Männchen ihren knallroten Kehlsack prallvoll auf, um Weibchen damit zu beeindrucken. Blaufußtölpel-Männchen hingegen zeigen zum selben Zweck stolz ihre blauen Flossen her. Sie strecken den Hals in die Höhe und wanken zeitlupengleich von rechts nach links. Bei Blaufußtölpel-Weibchen kommt dieser Tanz prima an, während Fregattvögel-Weibchen auf aufgeblasene Kehlsäcke stehen – der Bestand beider Arten gilt als gesichert.

South Plaza Island ist ein winziges Eiland. Groß genug jedoch, um einer eigenen Spezies von Landleguanen einen Lebensraum zu bieten. Die über einen Meter langen Reptilien sind endemisch auf dieser Insel, sie kommen nur hier vor. Rund 500 Exemplare hat man auf der Insel gezählt, wir sehen in einer Stunde 5 Tiere – ein Prozent der Gesamtpopulation auf unserem Planeten.

 

Auf Isla Española nisten Galapagos-Albatrosse. Mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,4 Metern sind sie die größten Vögel auf dem Archipel. Monatelang verbringen sie auf offener See, ohne jemals Boden zu berühren. Zur Brutzeit kehren sie hierher zurück – und zwar nur hierher auf dieser einen Insel. Nirgendwo sonst, weder hier im Archipel noch anderswo, hat man sie jemals an Land angetroffen.

Floreana ist doch keine reine schwarz-weiß Welt: pinkfarbene Flamingos waten durch flache Lagunen auf der Suche nach Shrimps und anderen Kleintieren. Sie sind vergleichsweise scheu. Wir nähern uns ihnen behutsam und vermeiden Lärm.

 

Wir beobachten Pelikane und Kormorane, Pinguine, Finken und die knallig farbene „Sally Lightfood“-Krabbe. Und dann sind da noch die allgegenwärtigen Meeresleguane, die einzige Echsenart auf der Welt, die eine amphibische Lebensweise angenommen hat. Zu Hunderten liegen sie regungslos auf schwarzen Felsen, um nach langen Tauchgängen die Körpertemperatur wieder auf höhere Werte zu regulieren. Sie spuken tatsächlich um sich – um das Salz loszuwerden, daß sie im Meerwasser schlucken (… oder so ähnlich. Da hab ich Billy nicht so recht verstanden …).

 

Mittags kehren wir zur Estrella zurück, dann gibt es erstmal einen dreigängigen Lunch, und der will in einer ausgiebigen Siesta verdaut werden. Nachmittags erkunden wir weitere Inseln oder gehen Schnorcheln. Das Meerwasser ist reichlich kühl. Der Humboldtstrom aus antarktischen Breiten ist verantwortlich dafür, daß wir beim Schnorcheln Wetsuits tragen. Immer und überall begegnen wir Seelöwen. An weiten Stränden hängen sie nach durchjagter Nacht schläfrig ab, doch im Wasser kommen sie uns bedrohlich nahe und spielen übermütig mit uns. Sie schießen unter der Oberfläche auf uns zu, um im letzten Moment abzudrehen und unter uns hinwegzutauchen. Anfangs erschrecken wir gewaltig bei diesen Scheinangriffen, bald jedoch steigen wir ein ins Spiel und versuchen vergeblich, mitzuhalten. Gelegentlich kreuzen Riffhaie auf. Noch ein Grund, zu erschrecken. Doch die Tiere sind harmlos und nehmen uns gar nicht erst zur Kenntnis.

 

Vor uns war ein anderer auf Galapagos: Charles Darwin erreichte die Inseln auf einer Weltreise 1835. Fünf Wochen lang studierte er die Tierwelt und machte Notizen. Diese Beobachtungen bildeten die Grundlage zu seiner später entwickelten Evolutionstheorie, nach der sich alle Lebewesen aus dem gleichen Stamm entwickelten und in Abhängigkeit zu den Umweltbedingungen anpaßten – und das schließt den Menschen mit ein. Das christliche Weltbild, in der die Erde in 6 Tagen erschaffen wurde und der Mensch als Ebenbild Gottes gilt, warf er damit gewaltig über den Haufen – obgleich Darwin damals mit dem Auftrag losgezogen war, die Richtigkeit eben dieser christlichen Lehre zu beweisen. Die Kirche hat ihm das wohl nie verziehen, noch heute wird die Evolutionstheorie von vielen christlichen Gemeinschaften als unsinnig und blasphemisch abgetan (in den USA zum Beispiel darf in etwa der Hälfte aller Schulen keine Evolution unterrichtet werden).

 

Anpassung und Selektion ließen also auf Galapagos Landechsen schwimmfähig und Kormorane flugunfähig werden – soweit macht das Sinn. Was sich die Evolution jedoch bei der Spezies Riesenschildkröte hat einfallen lassen, bleibt ein Rätsel. Das Reptil scheint einer merkwürdigen Laune der Natur zu entspringen, nach dem Motto: alles was unsinnig ist vereinen wir in diesem Wesen. Und so müht es sich heute mit seinem bis zu 150 Kilogramm schweren, unförmigen Körper auf winzigen, merkwürdig verdrehten Stummelbeinen durch die Pampa ab. Dabei hat es die Natur mit einer viel zu kleinen Bodenfreiheit ausgestattet. Bei jedem Felsen sitzt es auf, zappelt hilflos hin und her, bis die Schwerkraft schließlich Mitleid zeigt und das arme Tier ’runterplumpsen läßt. Der massive Panzer, den die Riesenschildkröte pausenlos mit sich herumschleppt, macht in einer Welt ohne natürliche Feinde - sehen wir mal vom Menschen ab - irgendwie auch wenig Sinn. Nichts desto trotz: das Reptil ist der Star auf Galapagos, gab der Inselwelt sogar ihren Namen (galapago = Schildkröte).

 

Bei Sonnenuntergang kehren wir müde auf die Estrella del Mare zurück. Uns bleibt knapp Zeit für eine kalte Dusche bevor zum Abendmenü geläutet wird. Anschließend vor dem Zubettgehen halten wir noch einen kleinen Plausch an der Bar mit John aus Oregon über Flußtouren am Amazonas oder Nadav aus Israel über Wanderungen in Nepal – Reisende unter sich. Dazu ein Bierchen, das auf irritierende Weise ähnlich dem Kaffee vom Frühstück schmeckt. Mag die Evolution hier auf Galapagos und auf dem übrigen Planeten noch so eine grandiose Vielfalt geschaffen haben – die Küche der Estrella del Mare hat sie ausgeklammert.