So, nun aber los! Unser Zeitplan (soweit es den gibt) ist in Peru gewaltig durcheinander geraten. In wenigen Tagen laufen unsere Visa ab. Es wird Zeit, das Land zu verlassen.
Über das baumlose Hochlandbecken des Altiplano erreichen wir den Titicacasee, den sich Bolivien und Peru miteinander teilen. Auf 3800 Metern Höhe in einem farblosen Land wetteifert das makellose Blau des Wassers mit dem des Himmels über den Anden. 230 Kilometer lang ist der See, 97 Kilometer breit - 13 mal so groß wie der Bodensee.
Für einen Stop noch auf peruanischer Seite nehmen wir uns Zeit, und zwar im schmucklosen Städtchen Puno: dort besteigen wir am Hafen ein kleines Motorboot und fahren hinaus auf den See. In relativer Küstennähe erreichen wir die schwimmenden Schilfinseln der Uro. Sie sind aus verschnürten Schilfrohrbündeln gebaut und dienten während der Inkazeit seinen Bewohnern als Zufluchtsstätte vor dem übermächtigen Gegner aus dem Norden. Die Uro ernährten sich durch Fisch- und Vogelfang und entwickelten auf ihren künstlichen Inseln eine autarke Lebensweise. Auch heute noch leben die Nachfahren der Uro auf solchen Inseln. Doch ihre schwimmende Welt hinterläßt bei uns einen wenig glaubwürdigen Eindruck und der Tourismusrummel auf ihr erreicht abstoßende Dimensionen. Das „Leben“ auf dem weichen Schilfboden, das uns da vorgeführt wird, präsentiert sich wie eine einstudierte Inszenierung für zahlungsbereite Touristen. Gäbe es die nicht, gäbe es wohl auch die Inseln der Uro längst nicht mehr.
Wir tuckern weiter mit dem Boot hinaus auf den See und erreichen nach 2 ½ Stunden Taquile – eine völlig andere Welt: Das Leben der rund 1400 indigenen Bewohner auf dieser (wirklichen) Insel ist noch immer bestimmt von alten Bräuchen und strengen Sitten. Der auch hier boomende Tourismus scheint sich dennoch den Traditionen unterzuordnen, kommerzielle Unterkünfte fremder Investoren z.B. gibt es nicht – waren die Uro-Inseln verspieltes Lego-Land, so ist Taquile authentisches Indioland. Auf alten Terrassenanlagen wird heute noch Landwirtschaft betrieben, ihre Produkte, vor allem Kartoffeln und Oca (ebenfalls eine andine Knollenfrucht) verkaufen die Taquileños auf dem Markt in Puno.
Am bekanntesten ist die Insel für seine strickenden Männer. Sie sitzen am Dorfplatz an alten Lehmmauern gelehnt und sind schweigend in ihre Handarbeiten vertieft. Ihre kunstvollen Pullover und Mützen sind meisterhaft und wunderschön.
Entlang des Titicacasees rollen wir Richtung Süd-Osten hin zur bolivianischen Grenze. Wir verlassen Peru mit gemischten Gefühlen. Wir haben dieses Land in vielerlei Hinsicht lieben gelernt: seine dramatische Bergwelt, seine lebendige Inka-Kultur, seine wuchernden Urwälder unten in Amazonien, selbst seine graue, vernebelte Küste erscheint rückblickend nur noch halb so trostlos. Andererseits erlebten wir in Nasca einen Tiefpunkt, der uns für Momente darüber nachdenken lies, ob wir die Reise nicht abbrechen sollten.
Perus Menschen sind nicht mehr oder weniger freundlich als ihre Nachbarn, doch nirgendwo sonst erlebten wir eine derart ausgeprägte „Jeder-ist-sich-selbst-der-Nächste“-Mentalität wie hier, nirgendwo waren wir häufiger mit Bestechungs- und Betrugsversuchen konfrontiert wie hier. Korruption scheint sich durch alle sozialen Schichten zu ziehen, bis hinunter zu den Ärmsten des Landes. Die Opfer dieses Systems aus Filz und Betrügerei scheinen immer auch gleichzeitig die Täter zu sein. In Arequipa hatte ich einmal ein aufschlußreiches Gespräch mit einem Peruaner über eben diese Thematik. Er meinte, daß Perus enorme wirtschaftliche und soziale Probleme zum großen Teil hausgemacht sind. Der Peruaner sei Einzelkämpfer. Es mangele dem Land an einer nationalen Identität, an einen kollektiven Glauben an eine gemeinschaftliche, bessere Zukunft. Statt dessen mache sich Resignation breit. Die, die können - und das sei vor allem die Elite – verlassen das Land. Der Rest kämpfe ums Überleben, und das eben mit allen Mitteln.
Es ist ein Teufelskreis: Armut verursacht Korruption verursacht Armut verursacht Korruption … . Am Ende verlieren alle, vor allem aber diejenigen, die im sozialen Gefüge ganz unten stehen: Straßenkinder in Lima, alte Menschen, die die Kraft nicht mehr aufbringen, an dem unwürdigen Spiel teilzunehmen, die indigene Bevölkerung.
Als wir uns den Ausreisestempel besorgen, unsere letzten Soles einer alten Frau geben, die am Straßenrand im Staub sitzt und als wir schließlich den Schlagbaum hinter uns lassen, macht sich Wehmut breit und auch Erleichterung. „Hasta luego“ Peru! Wir wünschen Dir bessere, fairere Zeiten. Wenn wir uns als Geschichtensammler auf dieser Reise verstehen, dann hast Du uns reichlich verwöhnt, und wir haben Dir viel zu verdanken.
Die Grenzformalitäten auf bolivianischer Seite verlaufen ziemlich reibungslos. Der Zollbeamte ist ein netter Mensch, der von der Immigration extrem unfreundlich (gibt uns mürrisch ein Visum für gerade mal 4 Wochen) und der Polizist, der sich meine Führerscheindaten notiert, bittet prompt um eine Spende für die Witwen- und Waisenkasse, oder die heilige Jungfrau Maria oder den hiesigen Frauenfußballverein, wer weiß das schon – na, dann sind die Fronten doch gleich mal geklärt, das Spiel geht weiter.
Im netten Städtchen Copacabana besteigen wir noch einmal ein Boot und fahren hinaus auf den Titicacasee. Diesmal besuchen wir die Insel Isla del Sol. Der Ort gilt der Legende nach als Keimzelle des Inka-Imperiums. Hier hat – wie der aufmerksame Leser dieser Website längst weiß – Vater Sonne seine beiden Kinder ausgesetzt, damit sie die Menschheit retten. Wir besuchen die Ruinen des alten Sonnentempels und durchqueren in einer 3-stündigen Wanderung die Insel einmal von Nord-Osten nach Süd-Westen. Auf dem alten, steilen Inka-Weg besteigen wir Höhen von bis zu 4000 Meter und – Donnerwetter! – dabei geht uns aber kräftig die Puste aus!
Vor der Kathedrale von Copacabana spielt sich jeden Vormittag ein seltsames Ritual ab: Da parken Menschen ihre Autos an der Straße und schmücken selbige mit Plastikblumen und Girlanden. Dann tritt ein Priester mit einem Blecheimer Weihwasser aus dem Gotteshaus und segnet die Fahrzeuge.
Natürlich reihen wir Lucy ein zwischen Kleinbusse und Taxis, dekorieren sie wie einen Karnevalswagen und lassen sie vom weißgekleideten Pastor segnen. Und um das Ritual zu vervollständigen, öffnen wir eine Flasche Bier und spritzen den Saft über Lucys Motorhaube (und trinken das letzte Schlückchen selber, so macht man das hier!). Der Pfarrer kriegt eine kleine Spende in die Hand gedrückt und wir verlassen Copacabana mit einem seligen Lächeln auf den Lippen.
Auf dem Weg Richtung Westen bringt uns eine wenig vertrauenswürdige Holzfähre über den Estrecho de Tiquina, die Seeenge zwischen dem großen Titicacasee und seinem südlichen Fortsatz. Entlang schnurgerader Straße geht es weiter über den Altiplano. Bald verbreitert sie sich zu einer achtspurigen Avenida und durchquert vorstädtische Wucherungen aus unverputzten Ziegelbauten. Dann, auf einer Höhe von 4000 Metern bricht sie jäh an einer Kante ab und stürzt 600 Höhenmeter in ein gewaltiges Riesenloch hinab: La Paz.
Boliviens größte Metropole ist Regierungssitz des Landes (nicht Hauptstadt, das ist Sucre) und wahrscheinlich die seltsamste Stadtanlage der Welt. Unten im mächtigen Kessel stehen die Hochhäuser, seine steilen Hänge sind dicht bis oben bebaut. La Paz als attraktiv zu bezeichnen wäre wohl überzogen, interessant ist es allemal. Wir mieten uns in einem kleinen Hotelzimmer in Zentrumsnähe ein und erkunden drei Tage lang die Stadt – und wir haben Glück: am Wochenende feiert La Paz seinen 458 Geburtstag mit einem prachtvollen Festumzug. Karnevalistische Folkloregruppen, Morenadas genannt, ziehen unter dröhnendem Rhythmus der Blaskapellen die Avenida Mariscal Santa Cruz hinunter. Tänzerinnen tragen Bowler-Hüte und sind ansonsten spärlich gekleidet, Tänzer verbergen ihre Gesichter unter grimmigen Masken und schleppen 30 Kilogramm schwere, bunt bestickte Phantasie-Panzer mit sich herum. Ein farbenfrohes, lärmendes Spektakel ist das und wir schunkeln mit und lassen uns verzaubern.
Lucy steht derweil in der Halle von Ernesto Hug, ein schweizstämmiger Bolivianer, der die mit Abstand sauberste Werkstatt in ganz Lateinamerika besitzt. Der Motor des elektrischen Fensterhebers auf der Fahrerseite streikt seit einigen Wochen, der Kühler leckt und die Hupe funktioniert auch nicht mehr (… und ohne Hupe hast Du im lateinamerikanischen Straßenverkehr sowieso verloren …!). Die Mitarbeiter von Ernesto nehmen sich unserer alten Dame liebevoll an – und das ist gut so, denn hinter La Paz wird sie anständig gefordert.
Wir wollen über die „gefährlichste Straße der Welt“ (laut einer Studie der Inter-American Development Bank) hinunter in die Yungas, die tropisch-heißen Andentäler fahren und von dort aus weiter durch abgelegene Wildnis ins bolivianische Tiefland. Eine lange, über weite Teile einsame, schwierige Strecke liegt vor uns. Alle Sprit- und Wassertanks füllen wir randvoll auf, besorgen reichlich Lebensmittelreserven, atmen tief durch und … brechen auf:
Die Fahrt fängt harmlos an, führt vorbei an kleinen Seen mit grasenden Alpakas, zunächst hinauf zur schneebedeckten Paßhöhe des La Cumbre in 4700 Metern Höhe. Lucy ist bestens gelaunt und sie hat Grund dazu: noch sind die Straßen asphaltiert, sind die Kurven ausgebaut, gibt es sogar einen Mittelstreifen. Dann geht es bergab. Wir lassen die kargen Felsen zurück und tauchen ein in das Land der Bromelien und Baumfarne.
Bald hört der Asphalt auf, werden die Kurven enger, bis die Straße schließlich einspurig ist. Ab jetzt müssen wir bei Gegenverkehr links fahren: Rechts von uns ist die steile Felswand; links aber, am Abgrund, der 800 Meter beinahe senkrecht in die Tiefe stürzt, sind die Ausweichstellen – und ausweichen muß, wer bergab fährt. Nix für schwache Nerven! Am Straßenrand erinnern kleine Eisenkreuze mit Namensschildern, zum Teil mit frischem Blumenschmuck, an so manche letzte Reise. Über 100 Menschen im Jahr sterben entlang dieser Strecke.
4000 Meter Höhenunterschied durchfahren wir über holprige Piste - vorbei an fast allen Klima- und Vegetationszonen Südamerikas, vom Schnee in dampfenden Regenwald – bis wir nach 3 Tagen das Tiefland des Beni erreichen. Hier unten bewegen wir uns durch schwülheiße Feuchtsavannen, die während der Regenzeit oft überschwemmt ist und dann dem Pantanal in Brasilien ähnelt. Die Piste ist nun zwar flach aber nicht minder schwierig. Nach kurzen, heftigen Regengüssen verwandelt sie sich in eine seifige Rutschbahn. Wir schlittern unter Schrittgeschwindigkeit durch den Matsch, um nicht in den Sumpf abzurutschen – und haben ein neues Problem: aggressive Moskitos erobern bei der langsamen Fahrt in Scharen die Fahrerkabine. Das wird so schlimm, daß wir die Scheiben schließen müssen und dann wie in einer Sauna eingesperrt sind.
Doch was für ein wildes Land umgibt uns: Storche, Jaribus, Kormorane, Ibisse, Löffelreiher, Teichhühner und Papageien bevölkern Sumpf, Seen und den Wald am Rand der Piste. Kaimane soll es in den Gewässern geben und Anakondas, 8 bis 9 Meter lang, warnt uns der Reiseführer. Die sehen wir nicht – leider (sagt Sabine), Gott sei Dank (sage ich).
Die freundlichen, heiteren Menschen hier gehören zum Großteil den Macheteros an. Sie sind Nachfahren von Tieflandindianern, sprechen ihre eigene Sprache und leben in bescheidenen, palmenbedeckten Hütten. Die Männer kauen ununterbrochen Kokablätter - das verrät eine aufgeblähte Wange, dunkel gefärbte Lippen und furchtbar schlechte Zähne.
Alle 50 bis 100 Kilometer versperrt ein Schlagbaum den Weg, steht eine Holzbude am Straßenrand: Zahlstelle. Man fragt sich schon, ob die schlechte Piste eine Straßennutzungsgebühr verdient. Aber die Kassierer sind freundlich und freuen sich darüber, daß ein merkwürdiges Fahrzeug aus Deutschland für Abwechslung in dieser abgelegenen Ecke an diesem heißen Tag sorgt.
Im Dschungelkaff San Borja wollen wir unsere Tanks auffüllen, aber es gibt im ganzen Ort keinen Diesel. Das läßt uns nervös werden. Die Anzeige steht fast auf Null, die nächste Tankstelle ist 135 Kilometer entfernt im Städtchen San Ignacio de Moxos. Sollen wir auf den Tankwagen warten, dessen Ankunft erst für den übernächsten Tag angekündigt ist, oder sollen wir die Weiterfahrt riskieren. Wir entscheiden uns für letzteres, verlassen San Borja mit mulmigem Gefühl im Bauch und versuchen, unseren Spritverbrauch entlang der Strecke so niedrig wie möglich zu halten - soweit das die rauhe Piste eben zuläßt. Mit dem buchstäblich letzen Tropfen Diesel erreichen wir die Zapfsäule in San Ignacio und reihen uns ein in eine geduldig wartende Schlange von Trucks und Bussen.
Weiter geht’s durch ungezähmtes Land, vorbei an kleine Indianersiedlungen, wo fröhliche Bewohner uns zuwinken. Den Rio Mamoré überqueren wir auf einem Holzkahn, der von einem archaischen Kanu mit Außenborder angeschoben wird und der die Fähre am Titicacasee rückblickend als einen prachtvollen Dampfer aussehen läßt. Noch einmal mühen wir uns durch tiefe Krater und Matschlöcher, ehe wir nach 4 Fahrtagen kurz vor dem Städtchen Trinidad endlich wieder über Asphalt rollen. Himmel, tut das gut! Wer jemals über Tage hinweg auf miserablen Pisten unterwegs war, weiß den Wert einer anständigen Teerstrasse erst richtig zu würdigen!
Zwei Tage später erreichen wir Santa Cruz, einstmals Außenposten der Zivilisation, heute Boomtown Boliviens – nicht eben attraktiv aber wir sind am Ziel. Nur, was tun wir eigentlich hier unten, weit abseits der ausgetretenen Touristenpfade des Landes? Warum diese Mühen und vor allem warum diese Eile?
Nun: in einer einfachen Hütte in einem abgelegenen Indianerdorf eine halbe Tagesreise südlich von Santa Cruz entfernt erwartet uns ein kleines, 6-jähriges Mädchen. Luz Cielo heißt sie, 'Himmelslicht', und es wäre wirklich nicht nett, sie warten zu lassen …!