Vancouver Island

Die Idee scheint zunächst nicht verkehrt: Nachdem wir beinahe 15.000 Kilometern in etwas mehr als drei Monaten zurückgelegt haben, denken wir, es ist Zeit für eine Pause. Urlaub vom Reisen, wennman so will. Und da wir auch noch beide unseren Geburtstag feiern, schenken wir uns gegenseitig eine kleine Kreuzfahrt:

 

In Haines, ganz im Norden der sogenanntenInside Passage - ein schmaler, bis nach British Columbia reichender Küstenstreifen Alaskas - besteigen (bzw. befahren) wir die M/V Malaspina. Dreieinhalb Tage lang wird die Fähre entlangschmaler, von dichtbewaldeten Berghängen und Gletschern eingeschnürter Wasserstraßen Richtung Süden unterwegs sein. Zielhafen ist Bellingham, südlich von Vancouver auf US-amerikanischer Seite.Die Malaspina verfügt über 73 Kabinen, Restaurant, Souvenirladen, Cocktail Lounge, Solarium (?) und einer „Observation Lounge", lesen wir in den Prospekten. Daß sie 1963 gebaut wurde und 1972 dasletzte Mal renoviert wurde, steht da nirgends ...!

 

Lucy endet in einem finsteren Schiffsbauch – wir in einer nicht minder finsteren Innenkabine, in der es so eng zugeht, daß wir in klaustrophobische Zustände geraten, noch eher das Schiff ablegt.Das Restaurant entpuppt sich als einfache Cafeteria, wo die Portion Pommes als gelungenstes kulinarisches Highlight zu bewerten ist, als Solarium wird der nicht überdachte Teil des oberenAußendecks bezeichnet, wo die Abgase des Schiffsdiesels ungefiltert den sonnenden, nach Atemluft ringenden Urlauber erreichen. Haha, selten so gelacht!

 

Nach geduldigem Zureden auf die ältere Dame an der Rezeption findet sich wie durch ein Wunder doch noch eine leidlich großzügigere und vor allem hellere Außenkabine für uns - in der CocktailLounge gibt es einen trinkbaren Rotwein ... da ist Licht am Ende des Tunnels!

 

Um die Zeit unterwegs sinnvoll zu nutzen, nehme ich unserenkleinen Campingtisch mit auf die Kabine, entwende aus der Cafeteria einen Stuhl und richte uns einen Arbeitsplatz unter dermilchigen Fensterluke ein. Sogar eine, zwar leicht angeschlagene, aber funktionierende Steckdose finde ich, in die wir das Notebook stöpseln können. Dann noch ein paar Bücher und das Fernglas,und wir sind ganz gut gerüstet für die Reise.

 

Die Malaspina durchfährt beiwechselhaftem Wetter einsame, nahezu unbewohnte Inselwelten. Der alte, rostige Kahn scheint allein durch seine Anwesenheit die reine, ungezähmte Wildnis, durch die er schippert, zubeschmutzen. Drei Zwischenstops legt das Schiff ein: in Juneau (nachts um drei), in Wrangell und in Ketchikan. Lange bleiben wir jedoch nicht in den Häfen so, daß wir uns nur kurz die Füße an Landvertreten können. Um unseren Bewegungsdrang weiter zu befriedigen, drehen wir – und nicht nur wir – viele Runden um das Außendeck. Eine Runde dauert zwischen 55 Sekunden und anderthalb Minuten – jenach Wind, Seegang und Menge der verspeisten Pommes. Wir laufen nach jedem Essen erstmal 10 Runden. Andere tun den ganzen Tag nichts anderes. Sind das erste Anzeichen von Hospitalismus?

 

Stundenlang stehen wir an der schmierigen Reling und halten Ausschau nach Walen, Delphinen oder Seelöwen. Sie machen sich rar, die Tiere im Wasser, womöglich angeekelt von dem lärmenden Pott, derda durch ihr Territorium pflügt. Wer könnte es ihnen verdenken? Dazwischen lesen wir viel, schreiben Reiseberichte und veranstalten leidenschaftliche „Tetris"-Wettkämpfe. Und ganzschleichend findet ein kleines Wunder statt: nach und nach stellt sich ein wohliger Rhythmus ein, eine Leichtigkeit, an die wir uns gewöhnen können: langes Ausschlafen, die gewohnten Wege zurCafeteria, hinauf an Deck, Runden drehen, Ausschau halten und wieder zurück zur Kabine; der Austausch netter Freundlichkeiten mit anderen an Bord - mit Steve z.B., dem Neuseeländer, der miteiner Harley durch Nordamerika reist oder Sarah hinter der Cocktailbar, die seit 16 Jahren jeden Sommer auf diesem Schiff unterwegs ist. Und als wir uns gerade den Umständen ergeben undvorsichtig Spaß an dieser Form des Unterwegssein entwickeln, da ist die Schiffsreise auch schon wieder vorbei. Wir verlassen in Bellingham die alte, rostige Malaspina in versöhnlicher Weiseund bekennen rückblickend, daß wir eine nette Zeit auf Ihr hatten.

 

Jetzt aber erfaßt uns wilder Tatendrang: aufdem 6-spurigen Highway #5 durch dichten Verkehr eilen wir nach Norden, überqueren die Grenze zu Kanada, und reihen uns ein in die Fahrzeugkolonnen nach Vancouver, Kanadas attraktiver Westmetropolezwischen Küstengebirge, Fraser River und Pazifik. Nach den Wochen in der abgelegenen Wildnis Alaskas tauchen wir in die glitzernde Großstadt ein fast wie im Rausch. Mitten im Zentrumbeziehen wir ein Hotelzimmer, machen uns zu Fuß auf durch die Innenstadt, Gastown und Chinatown – und kehren nach Stunden erschöpft und ernüchtert wieder zurück ins Hotel. Das war zu viel des Guten: die verlockenden Einkaufszentren, die lärmenden Straßen, vor allem aber die zahllosen Junkies in und um Chinatown – auch vor unserem Hotel – veranlassen uns, Vancouver schnell wieder zu verlassen. Wir wissen, daß wir der Metropole damit nicht gerecht werden. Vielleicht hätten wir uns behutsamer einlassen sollen auf ihr Treiben, vielleicht hätten wir einfach ein Hotel in einer ruhigeren Eckeder Stadt nehmen sollen, vielleicht hätten wir Vancouver dann anders wahrgenommen – so aber zieht es uns 'raus aus der Stadt, zurück in die Wildnis. Wir gönnen uns noch abends ein tolles Essenim Drehrestaurant „Top of Vancouver" im Habour Tower und genießen den Blick hinunter auf die Lichter der Stadt, checken am nächsten Morgen aber aus und besteigen erneut ein Schiff, das uns in einer2-stündigen Überfahrt hinüber nach Vancouver Island bringt.

 

Vancouver Island ist mit knappen 32.000 qkmdie größte Pazifikinsel Nordamerikas, etwas kleiner als Baden-Württemberg und mit über 500.000 Einwohnern vergleichsweise dicht besiedelt. Die Menschen leben allerdings vor allem entlang dermilderen, geschützten Ost- und Süd-Ostküste, die Westküste am offenen Nordpazifik ist spärlich besiedelt, wild und rauh – unser Revier! Von Nanaimo aus brechen wir nach Westen auf über den kurvigen,schmalen Highway #4 Richtung Pacific Rim Nationalpark. Auf halbem Weg legen wir am MacMillan Provinicial Park einen Zwischenstop ein: Wir laufen durch einen Urwald, in dem die letzten Exemplare derbis zu 800 Jahre alten und 75 Meter hohen Douglastanne stehen. Früher einmal dominierten solche Bestände die Insel, fielen aber (und fallen immer noch) Axt und Säge zum Opfer.

 

Im ehemaligen Fischerdorf Ucluelet schlagen wir unser Lager auf. Vielen werden die Namen geläufig sein: Nanaimo, Ucluelet, oder auch Tofino. Hier spielt sich ein bedeutender Teil von FrankSchätzings „Der Schwarm" ab. Kurze Zusammenfassung: Touristen besteigen ein Zodiak (eine Art Schlauchboot), fahren raus auf den Pazifik zur Whale-Watching-Tour, das Wetter verschlechtert sich, und ...die Touristen werden von mutierten Orcas und Grauwalen angegriffen und ersaufen in den Fluten. Wir besteigen am folgenden Tag ein Zodiak (eine Art Schlauchboot), fahren raus auf den Pazifik zurWhale-Watching-Tour, das Wetter verschlechtert sich und ... wir kriegen einen friedlichen Orca und 2 Grauwale vor die Linse und kehren nach 4 Stunden mit heiler Haut zurück in den Hafen. Das ginggerade noch mal gut ...! Ein Highlight ist sie nicht, die Tour – allerdings sind wir nach Alaska auch zugegebenermaßen ein bißchen verwöhnt.

 

Wir fahren wenige Kilometer weiter nach Norden entlang der Küste Richtung Tofino. Auch hier gibt es letzte Regenwaldbestände. Durch solch eine Urlandschaft zu laufen ist ein Erlebnis für alleSinne: Dich umgibt sattes Grün in allen Nuancen, Du riechst dunkle, modernde Erde, Du hörst das Rauschen eines Wasserlaufs, das Rascheln der Blätter, das Knarren alter Stämme, Du schmeckst diesüße Feuchte der Luft und Dein siebter Sinn verrät Dir, daß hinter dem dichten Blätterwerk Gnome und Feen jeden Deiner Schritte beobachten. Wir lieben diese düsteren Zauberwelten aus Licht undSchatten, verborgenen Pfaden und geheimnisvollen Verstecken. Sie versetzen uns in einen herrlichen Zustand kindlicher Anspannung.

 

Tofino ist die feine Variante von Ucluelet: nette Fassaden, edle Galerien, trendige Cafés und ein gut bestückter Supermarkt. Hier füllen wir unsere Lebensmittelreserven auf und fahren (nicht ohnevorher einen anständigen Espresso genossen zu haben) einige Kilometer zurück auf der #4. Kurz hinterm Kennedy Lake biegen wir rechts ab. Eine holprige Piste führt uns nach 18 Kilometern zurTorquat Bay. Dort nehmen wir das Kanu vom Dach,verstauen Schlafsack, Zelt, Isomatten, Lebensmittel und Trinkwasser und paddeln los. Die Bucht zieht sich fjordartig weit ins Land hinein. Rechts und links von uns steigen waldige Berghänge auf. Kein Weg führt an diese Ufer, wir sind umgeben von purer Wildnis. Im Wasser beobachten wir Seelöwen und Otter, an einer lichten Uferzone schlendert ein Schwarzbär übers Geröll – keine fünf Meter von unsentfernt. An senkrechten Felswänden hängen unzählige Austern. Mit dem Taschenmesser holen wir uns einige, brechen sie auf und essen sie roh – ein Genuß!

 

Nach 5 Stunden werden unsere Arme müde, die Sonne steht flach überm Wasser, es wird Zeit, sich ein Plätzchen für die Nacht zu suchen. Das gestaltet sich schwieriger als angenommen. Nirgendwofinden wir eine ebene Fläche, die groß genug für unser Zelt und einer Feuerstelle wäre. Noch einmal paddeln wir eine Stunde weiter, bis wir schließlich an einer schmalen Landzunge unser Lageraufschlagen können. Dann sitzen wir am Feuer, kochen Spaghetti und öffnen ein Glas Pesto. Die Sonne ist mittlerweile untergegangen, über uns breitet sich ein leuchtender Sternenhimmel aus. Um unsherum geht langsam das schwarze Wasser zurück, die Ebbe legt ein Geröllfeld voll Seesternen und Austern frei – es sind magische Stunden, die wir erleben.

 

Die Nacht schlafen wir beide unruhig. Angespannt lauschen wir den Geräuschen um uns herum: hier ein Rascheln, da ein Plätschern, ein Knacken - erst in den frühen Morgenstunden finden wirSchlaf.

Zum Frühstück bei Sonnenaufgang gibt's Müsliriegel und Tee. Schon bald brechen wir auf, die gestrige Strecke zurück – diesmal am anderen Ufer. Wir tun uns ungleich schwerer. Luft- undGezeitenströmung arbeiten gegen uns, die letzten 2 Kilometer kommen wir in offenes Wasser. Hier sind die Wellen erheblich höher als in der geschützten Bucht. Gestern war das Wetter ruhig, heute blästein starker Wind, in der Ferne bauen sich schwarze Regenwolken auf. Unser Kanu ist nicht für solche Verhältnisse gebaut. Wir sind reichlich unerfahren und unsere Arme müde. Streckenweise haben wirdas Gefühl, keinen Meter gegen Wind und Wellen vorwärtszukommen, und noch immer ist das zu erreichende Ufer weit entfernt. Wasser schwappt über den Rand des Kanus. Auch das noch – wir sitzen in einerkalten Brühe und fangen an, nervös zu werden! Um uns abzulenken, erzählen wir uns gegenseitig Witze. Keiner lacht, aber irgendwie hilft es: gerade, als uns beim besten Willen kein Witz mehr einfällt,erreichen wir endlich das Land. Es ist früher Nachmittag. Wir ziehen nur noch erschöpft das Kanu aus dem Wasser und legen uns dann müde ins Bett und ... schlafen 'ne Runde!

 

Ein paar Stunden später haben sich die Wolkenverzogen, die Winde und unsere Nerven beruhigt. Wir packen die Ausrüstung zusammen und verbringen den Abend in Lucy,machen ein Fläschchen Rotwein auf, hören Jazz Musik und starren uns schmunzelnd an. Wow, was für ein tolles Abenteuer, denken wir jetzt, da wir glücklich und erleichtert in unserer sicheren Budesitzen. Na schön: fürs nächste Mal nehmen wir uns vor, genauer den Wetterbericht zu studieren, und – ja ja - vielleicht sollten wir blutigen Anfänger auch offenes Wasser meiden. Ein persisches Sprichwort sagt: „Das Beste, was man vom Reisen nach Hause bringt, ist die heile Haut". Schon wahr, aber das Zweitbeste sind die guten Geschichten ...!