Jedes Jahr etwa eine Woche vor Weihnachten ertönt in Südafrika ein landesweiter Gong. Fließbänder werden abgeschaltet, Bürotüren geschlossen, Kantinen dichtgemacht: Das Land taumelt kollektiv in die Ferien. Und wehe dem, der für die nächsten drei Wochen nicht vorgebucht hat ….
An der Grenze zwischen Mosambik und Südafrika kriegen wir einen Vorgeschmack von dieser Massenbewegung. Die Rückeinreise nach Südafrika verläuft geschmeidig und zügig – auf südafrikanischer Seite selbstredend ein wenig schlechtgelaunter als auf mosambikanischer, aber wir haben gelernt, das nicht zu überbewerten. In unserer Spur tut sich jedenfalls nichts. Menschen aus Mosambik haben keine Ferien, und sie reisen schon gar nicht ins reiche, teure Nachbarland. Doch in Gegenrichtung tobt der Bär. Da reiht sich eine nicht enden wollende Schlange aus überladenen SUVs mit Gepäckanhängern, in denen der komplette Hausstand Platz gefunden hat. Ein (weißer) Südafrikaner, der Campingurlaub an den Stränden Mosambiks macht, will auf nichts von seinen Annehmlichkeiten zu Hause verzichten: Tiefkühltruhe, Mikrowellenherd, Grills in zig verschiedenen Ausführungen, Fernseher, elektronische Insektenkiller, Gesundheitsmatratze … alles findet auf wundersame Weise Platz auf seinem Gespann. Auf einem Anhänger glauben wir, eine Badewanne zu erkennen – aber vielleicht ist das auch nur wieder eine dieser südafrikanischen Supergrillapparate.
Mehr noch als in Mosambik tummeln sich die Urlauber allerdings im eigenen Land. Kaum ein Campingplatz von nun an, der nicht zum Bersten gefüllt ist. Morgens um sechs kriecht uns der Duft vom ersten Grillfleisch in die Nase, und das geht so ohne Unterlass durch bis tief in die nächste Nacht hinein. Verglichen mit der Luft rund um einen südafrikanischen Campingplatz während der Urlaubszeit kann man den Smog am Stachus in München bedenkenlos als klinisch rein bezeichnen. Alle Camper sind gut gelaunt. Da herrscht ein wohltuend freundliches Miteinander, das wir nach etlichen zweifelhaften Begegnungen im Land erfreut zur Kenntnis nehmen.
Wir trinken ein Bier mit der Nachbarfamilie zur linken. Mutter bietet uns selbstgemachten Kuchen an, den sie im mitgebrachten Backofen zubereitet hat. Vater will wissen, was es damit auf sich hat, dass deutsche Geheim-Spezial-U-Boote vor der Küste Namibias gesichtet wurden. Und er lässt uns teilhaben am Gerücht hier im Land, dass nämlich Deutschland seine Gebiete in Südwestafrika zurückerobern will und bei der Gelegenheit auch gleich noch den Rest des südlichen Afrikas annektieren möchte. Das allein ist beängstigend. Mehr aber noch seine Hoffnung, dass der Plan gelingen möge. Die Tochter zeigt uns stolz ihr junges Dekolleté und ein Foto von ihrem Freund, während der Sohn unentwegt der Tochter der nächsten Nachbarfamilie zublinzelt. In den Ferien geraten die neuformierten Hormone junger Menschen endgültig außer Kontrolle – das war bei uns früher nicht anders.
Zur rechten campt eine Motorradclique. Wir stehen um nagelneue BMWs GS 1200 und fachsimpeln über die Vorzüge einer Nass-Kupplung mit Anti-Hopping-Funktion. So ein Motorrad kostet viel Geld und einmal mehr staunen wir darüber, wie viel Reichtum sich auf die weiße südafrikanische Minderheit verteilt. Dieser Wohlstand finanziert sich auch durch ein Heer aus billigen schwarzen Arbeitskräften - ein Umstand, der auf einem Campingplatz bisweilen bizarre Formen annimmt: Die jungen Motorradfahrer neben uns haben für ihren Urlaub einen „Boy“ aus der Umgebung angestellt, der für sie abspült, das Camp sauber hält und, wenn es notwendig ist, auch noch die Motorräder putzt. Umgerechnet 8 Euro kriegt er dafür pro Tag, und er kann sich damit glücklich schätzen, denn sein Gehalt liegt um mehr als einen Euro über dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn.
So nett und erkenntnisreich unsere Begegnungen in diesen Tagen sind, so sehr sehnen wir uns irgendwann nach Ruhe und Einsamkeit. Weihnachten steht an. Eigentlich wollen wir das Fest in Lesotho verbringen, doch der Gott der Reisenden hat andere Pläne mit uns vor: auf dem Weg Richtung Westen passieren wir unweit von Vryheid auf einer kurvigen Bergstraße ein unscheinbares Schild: „Madaka Ranch Campsite“ ! Wir folgen dem Wegweiser über schmale, steinige Piste und landen auf einem Stück afrikanischem Urland, das uns ein dreifaches Halleluja an den Gott der Reisenden stoßen lässt: grüne, mit Schirmakazien bewachsene Berghänge um uns herum, ein Fluss rauscht unterhalb unseres Camps durch das Tal, Impalas und Zebras grasen um Mathilda, Affen tummeln sich in den Bäumen – und sie sind damit außer uns die einzigen Primaten weit und breit. Wir haben dieses kleine Paradies ganz für uns allein. Ich kann nackt hinüber zum Duschhäuschen laufen und niemand in diesem puritanischen Land stört sich daran – außer vielleicht der Affe im Gebüsch, doch der, bilde ich mir ein, zeigt sich eher schwer beeindruckt von dem, was er da sieht …!
Und so sehen dann also unsere Weihnachtsfesttage aus: Die Kamera bleibt, wie schon seit Mosambik, tief in der Tasche vergraben, statt dessen wandern wir den Fluss entlang zum nächsten Wasserfall, baden im darunterliegenden Naturpool, eruieren das Sozialleben von Impalas, grillen, wie es uns die Menschen im Land vorgemacht haben, lassen Affen erblassen, unsere Körper in der Hängematte baumeln und unsere Seelen in Mutter Afrikas üppigen Schoss versinken. Heilig Abend dekorieren wir uns einen bescheidenen Gabentisch aus dem, was das Land um uns hergibt und lesen uns gegenseitig Weihnachtsgrüße aus der Heimat vor.
Lesotho, so schreibt es die F.A.Z. bemerkenswert salopp und unverblümt, sei der sinnloseste Staat der Erde: „altes britisches Protektorat, keine Grenzen außer nach Südafrika, arm sondergleichen, Hauptwirtschaftszweige: Marihuana-Anbau und Viehdiebstahl.“ Gleich hinter der Grenze steigen wir in luftige Höhen auf. Die holprige, gewundene Straße kratzt an der 2.500 Metermarke. Wir passieren kleine Dörfer mit gemauerten Rundhütten, wo die Menschen in abgeschabten Decken gehüllt sind und zu große Gummistiefel tragen. Sie sind zu Fuß unterwegs, einige mit Pferd oder Esel. Die meisten der rund zwei Millionen Einwohner Lesothos leben in großer Armut. Drei Viertel aller Unterkünfte haben keinen Strom und ein Drittel kein fließendes Wasser. Rund 25 Prozent der Bevölkerung sind HIV-positiv. Wie sich die Zahlen doch wiederholen.
So vielfältig Afrika ist, so sehr gleichen sich die Lebensumstände der Menschen. Ob Njemps in Kenia, Luhya in Uganda, Tonga in Malawi, Swasis in Swasiland oder Basothos hier in Lesotho: sie alle leben in der gleichen korrupten, von Aberglauben und Patriarchat umnebelten Welt, sie hausen in den gleichen ärmlichen Hütten mit Strohdächern, bearbeiten mit den gleichen primitiven Mitteln das Bisschen Boden um ihr Dorf und betteln mit der gleichen Beharrlichkeit den vorbeikommenden Reisenden an. „Afrika ist arm, weil wir reich sind,“ heißt es gerne im von schlechtem Gewissen geplagten wohlhabenden Westen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Nach so vielen Monaten unterwegs auf diesem Kontinent, in denen kein Tag vergeht, an dem wir nicht mit der Not der Menschen konfrontiert sind, verfestigt sich der Eindruck, dass Afrikas Probleme auch und vor allem hausgemacht sind, und dass jede Hilfe von außen womöglich ebenso gutgemeint wie kontraproduktiv ist. Die permanente Konfrontation mit dem Elend Afrikas findet ihren Widerhall in zahllosen Debatten, die wir untereinander und mit anderen europäischen Reisenden führen. Die Argumente wollen vorsichtig ausgetauscht sein, denn keiner sieht sich gerne dem Verdacht ausgesetzt, rassistisches Gedankengut zu pflegen. Doch viele teilen eine Meinung, die der kamerunische(!) Intellektuelle Axelle Kabou so formuliert: „Die Afrikaner weigern sich, die Ursache für ihren Rückstand bei sich selbst zu suchen anstatt bei Sklaverei, Kolonialismus und Neokolonialismus. Die koloniale Vergangenheit kann nicht mehr als Entschuldigung für das Versagen in der Gegenwart herhalten.“ Und der ugandische(!) Journalist Andrew Mwenda schreibt über die Entwicklungshilfe des Westens: „Sie zerstört den wichtigsten Mechanismus, der langfristig die Armut beseitigen könnte: sie untergräbt die Entwicklung eines kompetenten, unbestechlichen und den Interessen der Bevölkerung dienenden Staatsapparates .“
Silvester verbringen wir im Dorf Rambantana mitten in Lesotho, wo wir in der Trading Post Lodge einen sicheren und malerischen Stellplatz für die Nacht finden. Wir blicken über das Dorf auf ein dramatisches Bergland, dessen grüne Hänge sich in der Ferne in sanftes Blau verlieren. Bis vor kurzem war der Boden noch verbrannt und knochentrocken. Doch dann kam der erste Regen, und er erlöste Land und Leute von ihrem großen Durst. Keine hundert Meter von uns entfernt steht der wellblechbedeckte Dorf Pub. Davon hatten wir ja keine Ahnung, als wir Mathilda auf der Wiese parkten. Gegen sieben Uhr abends bricht das Unheil über uns herein: Der Wirt dreht seine schäbige Musikanlage bis zum Anschlag auf und beschallt damit das Tal, jeden Berggipfel um uns herum, und wahrscheinlich hört man auch noch jenseits der Grenze zu Südafrika den schrägen Sound aus Rambantana. Einen Mangel an zweitklassigen Musikanlagen erkennen wir nicht in Afrika. Das Motto lautet länderübergreifend: Hauptsache laut. Um zwölf Uhr nachts, wir liegen schon längst in der Koje, hoffen wir, dass nun bald gut ist mit der Musik. Aber da haben wir die Ausdauer der Rambantaner beim Feiern unterschätzt. Als wir am nächsten Morgen gegen 10 Mathilda starten, dröhnen die Bässe noch immer durch das liebliche Bergland von Lesotho. Frohes 2013!
Inzwischen sind wir wieder in Südafrika. Die Schwellungen unserer Ohren haben sich zurückgebildet, das Land hat den großen Ferienansturm hinter sich gebracht, die Campingplätze sind leer und die Strände wieder begehbar. Wir stehen in Plettenberg Bay an der Garden Route direkt am türkisfarbenen Wasser einer Lagune. Gegenüber von uns erhebt sich eine unbewohnte Landzunge, die wohl als Paradies für Monstermöwen gelten muss: tausende dieser Vögel machen einen Lärm wie tausende von durchdrehenden Keilriemen. Wir treffen Vorbereitungen für die Rückverschiffung unseres Fahrzeugs nach Deutschland. Letzte Woche trafen wir uns mit Duncan von African Overlanders in der Nähe von Kapstadt. Er kümmerte sich um ein Schiff, handelte die Preise aus, vermittelte uns vor Ort einen Agenten und versorgt uns pausenlos mit wertvollen Informationen rund um die Prozedur. Wer immer sein Fahrzeug von oder nach Südafrika verschiffen möchte, dem sei die professionelle Hilfe von Duncan empfohlen (www.africanoverlanders.com). Mathilda ließen wir bereits waschen, ich habe zwischen Fahrer- und Wohnkabine eine halbwegs durchbruchsichere Wand eingebaut, und so allmählich verbrauchen wir die letzten Reste unserer Lebensmittelreserven, als da wären: Tonnen von Pasta und Reis, palettenweise Tomaten aus der Dose, Kisten von Weinen aus Stellenbosch (in Afrika lernt man, für den Notfall Vorräte anzulegen, um dann verblüfft festzustellen, dass es dazu höchstselten Notwendigkeit gibt …). In zehn Tagen übergeben wir unser Mädchen in Port Elizabeth an die Reederei. Abschied liegt in der Luft, und die Gewissheit, dass ein wundervolles, dramatisches, spannendes und einzigartiges Kapitel unseres Reiselebens sein vorläufiges Ende findet.
Keine Sorge: Ich will jetzt keinen Epilog zu unserer Afrikareise formulieren, weil das - erstens - verfrüht wäre, weil - zweitens - ein weiteres Kapitel aussteht, an dem wir bereits kräftig planen, und weil ich - drittens – genug geschrieben habe für heute. Nur so viel will ich - in alter Tradition - jetzt schon vormerken: nach der Reise ist vor der Reise!