Botswana

Wieder sitzen wir in einer Cessna. Das wollten wir eigentlich für den Rest unserer Tage tunlichst vermeiden. Und diese hier springt noch nicht einmal ordentlich an. Gibt röchelnde Huster von sich, ehe endlich ihr Propeller widerwillig in Schwung kommt. Wir krallen uns an den durchgesessenen Sitzpolstern fest, noch bevor wir den sicheren Boden überhaupt verlassen haben. Der lässige Damien hinterm Steuerknüppel hingegen ist bester Laune. Er hat den coolsten Job auf diesem Planeten: Buschpilot in Botswana. Er schaut über die Schulter nach hinten, sieht unsere angespannten Gesichter, hebt grinsend den Daumen und bringt die klapprige Maschine in Bewegung.

Wir starten von Maun aus unseren Flug ins Okavango Delta. In dieser unzugänglichen Wasserwelt leben fast alle Tierarten des südlichen Afrikas. Flusspferde und Termiten, erfahren wir, seien die eigentlichen Herrscher des Deltas. Ihre Lebensweise hat in Jahrtausenden die Gestalt dieser Landschaft geschaffen. Aus Termitenbauten wachsen Sträucher und Bäume, entstehen Inseln, die Zugbewegungen der Flusspferde lassen Schneisen und Kanäle im stets feuchten Gras entstehen. 40 Minuten fliegen wir über eine grandiose Natur, in der Wasserwege wie kapillare Adern das unendliche Land vernetzen. Mittendrin steuert Damien einen ockerfarbenen Streifen Sand an, die Maschine sackt hinunter, schlägt auf den Schotter, hebt nochmal ab, prallt wieder auf, poltert über Schlaglöcher, kommt schließlich zum Stehen, und wir lösen unsere festgekrallten Finger von den mitgenommenen Sitzpolstern.

 

Pete holt uns in einem Land Rover ab. Er wird unser Guide für die nächsten drei Tage sein. Wir nehmen auf den erhöhten Hinterbänken Platz. Über uns spannt sich eine schattenspendende Plane, im Fußraum des Beifahrersitzes ist in einer Kühlbox eine Flasche Gin und Tonic deponiert, und (hier will ich mal vorweg greifen) am Ende unserer Tage in Duba Plains werden die Flaschen alle sein und unsere Herzen voll. Auf zur Safari!

 

Duba Plains ist eine Insel mitten im Delta, auf der die Natur ihre bezauberndste und gleichzeitig ihre härteste Mine zeigt. Wir schlafen in einem Zeltcamp am Rande des Wassers, das im Uferbereich mit Teppichen von zarten Lilien bekleidet ist. Dem luxuriösen Camp haftet trotz allen Komforts Merkmale des Vorläufigen an. Die Natur ist in stetem Wandel. Wo heute noch Zelte auf festem Boden stehen, bahnen sich morgen schon neue Wasser ihren Weg Richtung Kalahari, wo sie von der Sonne wieder aufgesogen werden. Der Mensch ist in dieser gewaltigen Natur ein Statist. Am Nachmittag holt uns Pete zu unserem ersten „Gamedrive“ ab. Der Land Rover pflügt zwischen den Inseln durchs Wasser als wär er ein Amphibienfahrzeug. Wir stoßen auf eine Elefantenherde, die still und zeitlupengleich an uns vorüberzieht, beobachten Giraffen, die mit zarten Nüstern die Blätter der Akazien pflücken. Ein paar Antilopen schnellen aufgeschreckt meterweit durch die Luft. Dann nähern wir uns einer Büffelherde, und an der hat sich ein Rudel Löwen angeheftet. Wer Duba Plains besucht, tut dies wegen des ewigen Kampfes zwischen Löwen und Büffel, der sich hier abspielt und für den das Camp berühmt ist. Es ist die Brutalo-Version eines Katz- und Mausspiels, in dem die Maus ein paar Zentner mehr Gewicht auf die Waage stemmt und die Katze ein paar Zentner weniger Niedlichkeit.

 

Die Sonne nähert sich dem Horizont, ihr Hitzemotor schwächelt und das lässt die hungrigen, teils abgemagerten Löwen lebendig werden. Sie folgen der Herde in stetem Abstand. Ein Büffel hat sich von den übrigen Tieren gelöst, und ehe er „Hallo Leute, wo seid Ihr“ muhen kann, ist er zwischen zwei Löwen eingekeilt. Die Raubkatzen nähern sich dem Tier, umschleichen es, bewegen sich mit geduckten Köpfen, zögern, lauern auf den richtigen Moment - doch zu einem Angriff kommt es nicht. Der Büffel stürmt erst auf den einen Löwen zu, dann auf den anderen. Die vermeintlichen Täter zeigen sich beeindruckt und weichen ihrem Opfer aus. So geht das Spiel eine ganze Weile, bis der Büffel schließlich erfolgreich ausbricht und zurück zu seiner Herde findet. Inzwischen ist es fast dunkel. Wir verlassen für heute den Schauplatz.

 

In der Nacht in unserem Bett lauschen wir den virtuosen Harmonien und Dissonanzen der Wildnis, von der uns ein nur unzureichend schützendes Stück Stoff trennt. Es beginnt mit dem Zirpen der Zikaden, setzt sich fort mit leisem Grunzen, Prusten und Scharren, wir vernehmen das schlechtgelaunte Grummeln der Flusspferde, ferne Rufe, Keuchen, Schreie, das gespenstische Gejammer der Hyänen, das heisere Brüllen der Löwen. Dann meinen wir, Geräusche im Unterholz vor unserem Zelt zu hören, ein Scharren, wie wenn ein schwerer Körper durchs Gebüsch gezogen wird. Man bildet sich viel ein, nachts im stockfinsteren Zelt.

 

Noch vor Sonnenaufgang sitzen wir wieder im Land Rover. Wir folgen den Spuren der Büffel und stoßen nur etwa 500 Meter Luftlinie vom Camp entfernt auf die Herde. Büffel ziehen während der Nacht nicht durch die Gegend, teilt uns Pete mit. Und Löwen greifen nur eine Herde von hinten an, die in Bewegung ist. Es dürfte sich in der Nacht also kein Drama abgespielt haben. Tatsächlich entdecken wir die Löwen unweit der Herde im tiefen Gras. Sie warten darauf, dass sich was tut in der Büffelherde und wir warten mit ihnen. Im Osten färbt sich allmählich der Himmel, bald stemmt sich die Sonne als ein feuriger, roter Ball über den Horizont und wischt binnen Minuten jede Kühle hinweg. Die Büffel bewegen sich nicht von der Stelle, als wüssten sie um die Gefahr, die da lauert. Die Löwen warten geduldig, wir tun es auch. Alles verharrt in gespannter Starre, selbst das Zwitschern der Vögel scheint aufzuhören, nichts rührt sich – außer Pete: der schenkt uns aus einer Thermoskanne einen Becher Kaffee ein.

 

Nach einer Stunde kommt plötzlich Bewegung auf. Die rund 200 Büffel marschieren wie auf ein Kommando durch. Wir hängen uns an ihre Fersen. Sie brechen in Richtung des nahegelegenen Flusses auf, eilen dem Ufer entgegen, wirbeln jede Menge Staub dabei auf, stürzen sich schließlich in die Fluten und überqueren brüllend das Gewässer. Wo sind die Löwen? Warum sind sie der Herde nicht gefolgt? Wir wenden den Land Rover und fahren zurück. Und da entdecken wir sie. Der Gott der Großkatzen - Simba oder wie er heißen mag – meint es heute gut mit seinen Geschöpfen. Im Gras liegt ein verendeter Büffel, den die Herde zurückgelassen hat. Das gesamte Löwenrudel hat sich bereits um das Tier geschart. Und nun beginnt ein Fressgelage, dass keine Rücksicht auf mitteleuropäische Empfindlichkeiten nimmt. Die Löwen stürzen sich auf den Kadaver, brechen binnen Sekunden die Bauchdecke auf, laben sich an herausgequollenen Gedärmen und Innereien, besudeln sich mit Körperflüssigkeiten aller Art. Ein ekelerregender Geruch nach blutigem Fleisch, fauligen Darminhalten, feuchtem Lehm und Tod liegt bald als schwere Wolke in der Luft. Schmeißfliegen schwirren zu tausenden um den Kadaver, die ersten Kappengeier versammeln sich auf den Ästen der nahestehenden Akazien, ihre Köpfe zwischen die Flügel gedrückt, als würden sie mit den Schultern zucken und sich ratlos fragen, wann sie denn endlich mit dem Fressen an der Reihe wären. Ihre Zeit wird kommen, sobald die Löwen ihre Mahlzeit beendet haben, morgen, vielleicht auch erst übermorgen.

 

In den folgenden 2 Tagen kehren wir immer wieder an den Tatort zurück. Mit jedem Mal haben die Löwen mehr herausgekratzt aus den Trümmern, die einst ein Büffel waren. Mit jedem Mal ist der Geruch nach Fäulnis und Verwesung giftiger und unerträglicher. Mit jedem Mal hängen die satten Katzen träger und erschöpfter im Gras, und die Geier warten immer noch auf Ihre Stunde. Als wir am dritten Tag von Damien mit seiner Cessna wieder abgeholt werden, sind wir auf anschauliche Weise um ein paar neue uralte Erkenntnisse reicher. Der Tod ist in den Weiten Afrikas allgegenwärtig. In unserer modernen Zivilisation ist er abstrakt geworden, verbannt aus dem Alltag der Lebenden in die Intensivstationen der Krankenhäuser, die Abgelegenheit der Friedhöfe oder die Sterilität der Schlachthäuser. Bei uns tritt Tod nur noch im Fernsehen auf. Hier in der Wildnis Afrikas versteckt er sich hinter jedem Gebüsch, schleicht im tiefen Gras der Savanne, ruht im Schatten unter knorrigen Bäumen. Wir können ihn hören, sehen und riechen. Doch dort, wo der Tod lauert, ist immer auch Leben. Es ist ein ewiger Kampf, der keinen Sieger kennt.

 

Dann krallen sich unsere Hände wieder in die Sitzpolster.