Als wir gegen Mittag den kleinen Grenzübergang im Bergland erreichen, fängt es an zu regnen. Es ist, als ob die Wolken einen kollektiven Entschluss getroffen haben: Heute verschonen wir Südafrika, abregnen tun wir uns erst über Swasiland. Eine junge, freundliche und ausnehmend hübsche Beamtin in einem schmucklosen Grenzhäuschen ist sichtlich erfreut, als wir eintrudeln. Endlich hat sie etwas zu tun. Und sie erledigt ihren Job mit der Gründlichkeit einer südbadischen Finanzamtsangestellten. In ein Formular müssen wir sämtliche elektronischen Geräte notieren, die wir ins Land bringen. Mit Modelbezeichnung, Seriennummer und dem geschätztem Wert in Lilangeni (der Währung des Landes, die so unbekannt ist, dass Microsoft Word mir gerade einen Rechtschreibfehler unterstellt). Doch weil das Stunden dauern würde und wir noch ‘was vorhaben heute, melden wir nur unsere kleine Sucherkamera an und verheimlichen geflissentlich Sabines elektrische Zahnbürste, meinen Bartschneider und was da sonst noch in unserer Kabine verstaut ist. Unsere Grenzbeamtin ist glücklich.
Als wir ins Land hineinrollen, kommt es uns so vor, als wären wir zurück in Afrika mit all seinen zauberhaften und katastrophalen Facetten. Die Straße gleich hinter der Grenze ist miserabel, die kleinen Hütten sind strohbedeckt, die Menschen sind alle schwarz, alle lebensfroh und alle leidenschaftlich. Sie grüßen uns winkend, und dabei lächeln sie nicht, sie lachen! Die vornehmlich weißen Menschen in Südafrika, mit denen wir es bis eben zu tun hatten, ignorierten unseren Gruß, unser Lächeln, unsere Existenz. Hier werden wir endlich mal wieder herzhaft angebettelt – und wer kann es den Menschen verübeln. Die Süddeutsche berichtet im vergangenen August: „Laut dem jüngsten Bericht der OECD zählt Swasiland zu den drei ärmsten Ländern Afrikas, nur Madagaskar und Elfenbeinküste stehen noch schlechter da. Fast jeder zweite ist arbeitslos. Der Großteil der 1,3 Millionen Einwohnern lebt von weniger als einem Dollar pro Tag.“
Swasiland hat die Dimension einer Puppenstube, und was sich auf seinen 17.363 Quadratkilometern so abspielt gleicht – zumindest politisch, wirtschaftlich und kulturell - einem Miniaturmodell Afrikas. Nur in gesellschaftlicher Hinsicht trifft das nicht so ganz zu: 97% der Einwohner gehören nämlich zu einem Volksstamm, eben den Swasi, und das ist ein gewaltiger Unterschied zu fast allen anderen schwarzafrikanischen Staaten, die wie ein Völkerflickenteppich daherkommen. Wer nun jemals die Theorie aufgestellt hat, dass die Vielfalt der Ethnien, Sprachen und Völker innerhalb eines von europäischen Kolonialherren zwangsgeschaffenen Staates eine der Hauptursachen für dessen Scheitern ist, der sieht sich leider am Beispiel von Swasiland widerlegt: die politische Elite des Königreichs ist so korrupt wie anderswo auf dem Kontinent. Seine Wirtschaft liegt am Boden, seine Menschen sind arm. Nur König Mswati III schwelgt im Luxus. Er soll ein privates Vermögen von mehr als 100 Millionen Dollar besitzen. Zu Einkaufstouren fliegt er zusammen mit seinen 13 Frauen regelmäßig im Privatjet nach Dubai und gibt dort in wenigen Tagen Millionen aus. Für seine jüngste Frau ließ der Herrscher, so liest man, einen 20-Millionen-Dollar-Palast errichten.
Und es kommt noch schlimmer: Die größte Katastrophe im Land ist nicht Armut oder Korruption, sondern Aids. Nach Angaben der amerikanischen Entwicklungshilfeagentur USAID hat Swasiland mit etwa 26 Prozent die weltweit höchste HIV-Infektionsrate, laut unserem Reiseführer sind es gar 35%. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt heute nur noch 31 Jahre - sie hat sich in zwei Jahrzehnten halbiert. Jedes fünfte Kind in dem kleinen Königreich ist Waise. Vier von zehn Schwangeren sind HIV-infiziert.
Das ist die eine Seite der Medaille, die hässlich Fratze Afrikas, die Dir immer im Nacken sitzt. Aber weil sie sich damit hinter Dir versteckt, siehst Du sie nicht. Du ahnst sie nur, weil manchmal ihr kalter Atem Deine Nackenhaare aufstellen lässt. Die andere Seite der Medaille breitet sich vor Deinen Augen aus und sie ist zauberhaft und so liebenswert: wir fahren durch ein grünes Bergland, das gut im Saft steht. Vom Himmel nieselt der Regen herunter, die Piste geht bald in Asphalt über. Rechts und links der Straße kleine Siedlungen bestehend aus einigen wenigen Winkelhütten und einer Rundhütte. Swazis pflegen stolz ihr kulturelles Erbe, und das zeigt sich in diesen Dörfern, die eben in Wahrheit keine Dörfer sind, sondern Familiensiedlungen. Das Familienoberhaupt hat seine Hütte, jede seiner Frauen kriegt ihre eigene, die Kinder schlafen in einer Mädchen- und einer Bubenhütte. Die größte Behausung im Kral kriegt Oma. Sie bewohnt die Rundhütte. In ihr spielen sich auch alle wichtigen Angelegenheiten der Gemeinschaft ab: hier werden Gäste empfangen, Besprechungen durchgeführt und Zeremonien abgehalten.
Eigentlich haben wir uns für Swasiland ein straffes Wanderprogramm ausgearbeitet, aber bei dem Regen vergeht uns die Lust darauf. Und damit es nicht auch noch in unseren Köpfen zu regnen beginnt, schalten wir kurzerhand um und gehen auf Kulturtour. Kein Ort im Königreich eignet sich besser dazu, als das Ezulwini Valley. Das breite, von satter Vegetation bedeckte Tal unweit der Hauptstadt Mbabane (nein, liebes Microsoft-Team, auch das ist kein Rechtschreibfehler …) hat sich laut Reiseführer zu einer kurios anmutenden Touristenstrecke gewandelt. Hotels, Casinos, Schönheitsfarmen und Nachtclubs liegen in Nachbarschaft zum Parlamentsgebäude, dem Wohnort von König Msawati III. und dem Swaziland National Museum. Von der Not des Landes ist hier nichts zu spüren. Die Häuser sind nobel, die Straße aalglatt, nachts leuchten die Laternen. In Mbabane, nur ein paar Kilometer weiter, sind selbige wegen nicht beglichener Stromrechnungen abgeschaltet. Dort findet in öffentlichen Schulen kein Unterricht mehr statt, weil kein Geld für Lehrergehälter da ist. Die Regierung schuldet ihren Bediensteten fast fünf Millionen Euro - Peanuts für den König, möchte man meinen. Am liebsten würden wir erst mal bei Msawati III. vorbeischauen, um ihm zu sagen, dass es da ein paar Dinge in seinem Land gibt, die irgendwie völlig verkehrt laufen. Das tun wir nicht und suchen statt dessen das Nationalmuseum auf.
Es ist das mit Abstand niedlichste Nationalmuseum, durch das wir je flaniert sind. Außer ein paar Schaufensterpuppen in traditionellen Klamotten, etlichen verblichenen Fotografien und draußen im Garten die typischen Rundhütten gibt’s nicht viel zu sehen. Dabei hätte die Geschichte des Landes durchaus mehr Aufmerksamkeit in diesen Räumen verdient. Durch geschickte Diplomatie, in der sie Buren und Engländer gegeneinander ausspielten, haben es z.B. die damaligen Könige lange Zeit verstanden, sich dem Joch der Kolonialisierung zu entziehen. Gleichzeitig nutzen sie die Beziehungen zu den Europäern, um Unterstützung gegen die Zulu zu erhalten.
Und auch das reiche kulturelle Erbe des Landes, das seine Menschen mit so viel Stolz pflegen und bewahren, findet im Nationalmuseum unserer Meinung nach nicht wirklich ein angemessenes Ausstellungsumfeld. Die traditionelle Medizin z.B. bestimmt nach wie vor das tägliche Leben der Swazi. Die Heiler, die sich als Kräuterkundler, Astrologen, Psychiater oder Priester hervortun, sind sowohl Männer als auch Frauen: die Inyangas bekommen ihr Können durch ihre Vorväter überliefert, Sangomas hingegen sind Heilkundige, die sich durch Visionen dazu berufen fühlen. Von alle dem erfahren wir nichts im Nationalmuseum (naja, vielleicht hat es da ja auch nichts verloren …). Doch ein paar Kilometer weiter treffen wir Molucy, und ihm verdanken wir es, dass wir hier mit unserem Wissen prahlen können.
Molucy führt uns durch ein traditionelles Swazidorf. Obwohl die Anlage eine touristische Einrichtung ist, entbehrt sie nicht einer gewissen Authentizität. Das mag vor allem daran liegen, dass die Protagonisten, die das tägliche Leben hier demonstrieren, auch tatsächlich in den kunstvoll geflochtenen Strohhütten wohnen. Wir sind Zeugen einer beeindruckenden Tanzdarbietung, die den kämpferischen Geist der Swazi verrät. Der Inyanga des Dorfes persönlich erzählt uns in gebrochenem Englisch von der Macht seinesgleichen, vom Glauben seines Volkes an ein Leben nach dem Tod, an eine beseelte Natur im guten wie im bösen Sinne und von der Verehrung der Ahnen. Wir kriegen einen Becher Sorghum Bier serviert. Und wenn es stimmt, dass sich Ehepaare im Laufe der Jahre immer mehr angleichen, dann ist in unserem Fall etwas schief gelaufen in der Beziehung: ich finde nämlich, dass das Gesöff nicht als eine der sieben kulinarischen Weltwunder durchgeht, Sabine findet’s klasse.
Unser ständiger Begleiter während unserer Tag in Swasiland bleibt der Regen. Regen in allen Varianten: tröpfelnd, fließend, nieselnd, strömend, sprühend. Wir verbringen viele Stunden in unserer Kabine und lauschen den unterschiedlichen Rhythmen der Wasser, die da vom grauen Himmel niedergehen. Gott sein Dank haben wir einen netten Campingplatz in einem üppigen Garten gefunden, der uns das Warten auf trockenere Zeiten dank W-LAN erheblich erleichtert. Erst am vorletzten Tag im Königreich lässt der Regen nach. Die Sonne bricht durch immer größere Lücken in der Wolkendecke und macht gleich unmissverständlich klar, dass wir uns immer noch in subtropischen Gefilden bewegen. Sie hat einen für das Land gnädigen Zeitpunkt gewählt, sich wieder zurückzumelden. Heute findet nämlich im königlichen Kral die Ncwala Zeremonie statt, das wichtigste und ehrwürdigste kulturelle Ereignis im Swasiland. Es ist eine Art Thanksgiving auf afrikanisch, in der Früchte gesegnet und geopfert werden. Der König persönlich erscheint in voller Tracht in Begleitung seiner Krieger und verzehrt rituell die ersten Früchte des Jahres. Danach essen seine Untertanen und beten zu ihren Vorfahren.
Wir reaktivieren das Motorrad und fahren die wenigen Kilometer zum Schauplatz des Geschehens: ein unscheinbarer Hügel im Elzuwini Valley, darauf ein kreisförmig angelegter Pferch, wie wir ähnliche schon so häufig in afrikanischen Dörfern gesehen haben. Nur ist dieser hier wesentlich größer, bestimmt 150 Meter im Durchmesser. Eingezäunt ist er mit grob gehauenen, ca. 5 Meter hohen Baumstämmen, der Ort könnte die Kulisse zu einem King Kong Film sein. Aus allen Ecken des Landes pilgern Menschen hier her. Einige reisen im BMW X5 an, die meisten aber sind zu Fuß unterwegs, um dem Ritus beizuwohnen, nicht wenige von ihnen tagelang. Alle tragen sie traditionelle Kleidung. Die Männer haben einen knielangen Stoff um ihre Hüften gebunden, darüber das Vlies eines Tieres, das seine gesellschaftliche Stellung zu demonstrieren scheint. Wer das Fell eines Leoparden in Swasiland trägt, kam wahrscheinlich mit dem X5 an. Frauen tragen Stoffe in den traditionellen Farben rot, schwarz und weiß. Statt eines Leopardenfelles demonstrieren die begüterten von ihnen ihren Wohlstand mit modernen Accessoires: D&G Sonnenbrillen, kiloweise Schmuck, Smartphones …, die üblichen Symbole. Alle haben sie einen Stock in der Hand, und der spielt beim bevorstehenden Ritual eine wichtige Rolle.
Die Menge schleust uns hin zur Kultstätte. Vor Betreten des Krals müssen die wenigen Touristen durch eine Sicherheitsschleuse. Kameras sind bei der Zeremonie verboten. Frauen und Männer gelangen durch getrennte Eingänge zum Zeremonialplatz. Dort ist das Geschehen bereits in vollem Gange: In Geschlechtern getrennt bilden tausende von Swazis Körper an Körper einen Kreis. Sie bewegen sich zu kurzen, sich widerholenden Rhythmen auf der Stelle, beugen ihre Leiber nach vorne und wieder zurück, schwingen ihre Stöcke in die Höhe und dem Boden entgegen. Dazu singen sie, oder eigentlich ist es eher ein fließendes Murmeln, ein Geraune, unterbrochen mal von Zischlauten, mal von grellen Pfiffen einzelner. Zeitweilig erinnert die Weise an gregorianische Chöre, manchmal an den Kriegsgesang einer römischen Legion. Das ganze folgt einer einstudierten Choreographie, deren Sinn und Symbolik uns ein Rätsel bleibt. Man fordert mich auf, mein Oberteil auszuziehen, um der Würde des Anlasses Respekt zu zollen. Immer wieder treten unterschiedliche Gruppen in den inneren Zirkel und drehen eine Runde um die wogende Menge: Krieger mit stolzem Federschmuck auf den Häuptern, junge Mädchen, barbusig, mit Schärpen um den Hals. Die Luft scheint erfüllt von spirituellen, fast meditativen Schwingungen, wir stehen gebannt am Rande des Geschehens und verfolgen mit Andacht und Faszination das rituelle Treiben um uns herum.
Dann betritt der König mit seiner erste Frau den Schauplatz. Eingehüllt in Leopardenfell, die Schwanzfedern des Witwenvogels verschleiern sein Gesicht, schreitet er von seinen Kriegern eskortiert durch den Kral und reiht sich ein in die tanzende und singende Menge. Sie schwingt, sie pendelt, sie bewegt sich wie ein einziger Organismus, Stunde um Stunde. Draußen im Land rumort es. Das Volk begehrt gegen seinen Herrscher auf. Hier drinnen aber scheinen sie ihren König zu lieben und zu verehren. Die Armut, die Not und das Elend des kleinen Landes bleiben außen vor. An diesem Tag zelebrieren sie ihr Königreich, ihre Kultur, ihre Tradition und ihr Selbstverständnis. Heute erleben wir den Zauber Swasilands, den Stolz Afrikas.