Ägypten

Da stehen wir nun auf afrikanischem Boden, doch man lässt uns partout keine Zeit, den Moment angemessen ehrfurchtsvoll zu verinnerlichen. Im Hafen von Nuweiba am Roten Meer steuern wir Mathilda vom Fährschiff herunter hin zu jenem vermeintlich unheilvollen Ort, an dem uns eine - gelinde formuliert - konfuse Einreiseprozedur bevorsteht. Wir klettern aus dem Führerhaus und werden sogleich von einem Vertreter der Tourist-Police in Empfang genommen. Er stellt sich mit Namen Halid vor und bietet uns seine Dienste an. Die bestehen darin, dass er uns - gegen ein entsprechendes Entgelt, versteht sich - über sämtliche Hürden dieses bürokratischen Marathons hinweghieven wird. Und soviel vorneweg: der Mann wird jedes einzelne investierte ägyptische Pfund wert sein!

Die nächsten drei Stunden dackeln wir also hinter Halid her, bepackt mit Pässen, Carnets, Fahrzeugpapieren und ... einem ansehnlichen Bündel kleiner Pfundnoten. Halid stolziert voran, bewegt sich geschmeidig von Schalter zu Schalter, lässt sich von uns die verschiedenen Dokumente überreichen und immer auch gleich den zu bezahlenden Betrag: fürs Abstempeln unserer Carnets (und für deren Kopien), für ein Formular zur Erlaubnis der Nutzung ägyptischer Straßen (und für deren Kopie), für Fahrzeugversicherungen über einen Zeitraum von einem Monat (und für deren Kopien), für die Ausstellung einer Sondergenehmigung zum steuern eines allradgetriebenen Fahrzeugs auf ägyptischen Straßen (und für deren Kopie), für den schriftlichen Abgleich der Fahrgestellnummern (und für deren Kopien), für den blutigen Kratzer am Finger eines der Beamten, den selbiger sich beim Abgleich der Fahrgestellnummern zugezogen hat ... und am Ende für zerbeulte ägyptische Autokennzeichen, die von nun an Mathilda schmücken werden. Das Bündel Banknoten ist verteilt und wir reisen ins Land hinein!


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Das tun wir freilich mit Vorbehalten: Der Menschenrechtsauschuss des Bundestages hat noch im letzten Monat ein vernichtendes Urteil zur Menschenrechtslage in Ägypten gefällt. Darin heißt es: »Die ägyptische Polizei nimmt nicht nur Oppositionelle willkürlich fest und foltert sie. Die Regierung geht auch nicht gegen willkürliche Festnahmen und Folter gegen einfache Bürger vor, sondern setzt Übergriffe von Polizisten als Mittel der Einschüchterung ein. Regierungskritische Blogger und Journalisten sind erheblich unter Druck und Opfer von willkürlichen Verhaftungen durch Polizei und Staatssicherheit, einige von ihnen wurden unter verschärften Vollzugsbedingungen jahrelang weggesperrt.« Und noch eine erschreckende Nachricht macht es uns schwer, warm zu werden mit dem Land: nach USAID-Angaben hatten 2005 96,4 % der damals 10-14 Jahre alten ägyptischen Mädchen eine Genitalverstümmelung erlitten; damit liegt das Land weltweit an der Spitze bei der Verstümmelung weiblicher Genitalien.

Als Touristen haben wir selbstverständlich außer den einen oder anderen Terroranschlag wenig zu befürchten. Tourismus stellt ein wichtiger Wirtschaftszweig dar. Um islamistischen Extremisten das Handwerk zu legen, hat die Regierung u.a. flächendeckend Polizei- und Militärkontrollen eingerichtet mit der Folge, dass wir auf den Straßen des Landes alle paar Kilometer an einem Checkpoint landen, wo wir nach Auskunft von Nationalität und der Frage nach dem Woher und Wohin problemlos passieren dürfen. Die Prozeduren verlaufen durchweg korrekt, manchmal auch freundlich.

 

Über die schroffe Sinaihalbinsel hinweg steuern wir den Golf von Suez an, biegen nach Norden ab, dann weiter Richtung Westen der Hauptstadt des Landes entgegen, Kairo: ein in schmutzig rußfarbenem Staub getunkter Moloch; der Verkehr reines, aber funktionierendes Chaos; aufgetürmte Müllberge in den Seitenstraßen und an jeder zweiten Kreuzung bewaffnete Polizisten und Militär. Über alldem wacht von grell erleuchteten Plakaten und Wandbildern blickend Präsident Mubarak als General, Staatsmann, Landesvater. Irgendwann setzt das erste Allah Akbar aus dem Lautsprecher eines Minaretts ein, dem unendliche Echos folgen, und mit leichter Verzögerung detoniert in unseren Hirnen ein Schrecken, wie wir ihn weder in Syrien noch Jordanien gespürt haben: »Hier sind wir in der vollkommenen Fremde.«

 

In Kairo steht der nächste Behördenlauf an. Wir müssen die Visa für Sudan und Äthiopien beantragen. Zusätzlich brauchen wir von der deutschen Botschaft ein Empfehlungsschreiben zur Einreise in den Sudan. Wir nehmen uns ein freundliches Zimmer in Downtown Kairo, wo wir nach kraftraubenden Marathons durch Dienststellen und Sehenswürdigkeiten den erschöpften Akku auftanken können. In rekordverdächtigen sieben Tagen kriegen wir alle Stempel in die Pässe und arbeiten die wichtigsten touristischen Highlights der Stadt ab. Im ägyptischen Museum staunen wir über eine unüberschaubare Zahl von grandiosen Kolossalstatuen, Skulpturen, Reliefs, Schmuck und Möbelstücken aus alter Pharaonenzeit - und nicht minder über die schäbige Art der Zurschaustellung eben dieser Glanzstücke. Hinter billigen Glasvitrinen verstauben die Ausstellungsgegenstände, Infotafeln geben wenig Auskunft, das Museum verströmt den armseligen Charme eines Provinzarchivs.

Natürlich besuchen wir auch die Pyramiden. Die in Ägypten allübliche Placebo-Sicherheits-schranke ist schnell überwunden. Dahinter wehren wir alle aufdringlichen Versuche von windigen Händlern ab, die uns ihren Ramsch verkaufen wollen. Sie bieten Kristallpyramiden und Plastikskarabäen an oder Kamel- und Pferdetouren auf geschundenen Tieren und sie tun all das mit einer enthemmten Penetranz. Die touristische Infrastruktur rund um die viertausend Jahre alten Monumentalbauten ist beschämend dürftig und eines derartigen Ortes unwürdig. Man mag das als schwärmerischer Orientalromantiker schönsäuseln, für uns ist es ein eindrucksvolles Beispiel zivilisatorischen Verfalls. Eilig versuchen wir, dem Tohuwabohu zu entrinnen. Wir bewegen uns durch Wüstensand von den Pyramiden weg, lassen Lärm und Getöse hinter uns, besteigen in einiger Entfernung einen Hügel und blicken hinüber auf die gewaltigsten Gräber, die je von Menschenhand geschaffen wurden. Selbst heute, mit den maschinellen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts, würde der Mensch an die Grenzen des technisch Machbaren stoßen, wollte er diese Steinmonumente nachbauen. Die Spätnachmittagssonne flutet die Kulisse mit warmem Licht. Sie entschleiert den mysteriösen Zauber der Pyramiden von Gizeh und gewährt uns am letzten Tag unseres Aufenthalt in Kairo einen versöhnlichen Augenblick von sanfter Innigkeit. Wir lassen ihn still und dankbar auf uns wirken.

 

Am nächsten Tag füllen wir Wasser- und Dieseltank randvoll auf. Wir verlassen die letzten lärmenden Vorstadtwucherungen einer Stadt, die kaum einen freundlichen Ort zum Verweilen bereithält und tauchen in eine lautlose Gegenwelt ein. In den östlichen Ausläufern der Sahara rollen wir durch einen Kosmos aus Steinen und Sand. Endloses, gewaltiges Nichts weckt unsere betäubten Sinne. Die erste Nacht in menschenverlassener Einsamkeit ist wie eine Erlösung aus einem unwirklichen Alptraum. Über uns breitet sich ein feierliches Sternengewölbe aus, die Stille um uns herum ist greifbar, die Luft trocken und lindernd kühl.

Über eine Strecke von annähernd 1000 Kilometern fahren wir auf größtenteils anständigem Asphalt in einem weiten Bogen Richtung Süden. In den wenigen Oasen, die wir passieren, begegnen uns höfliche Menschen, die einen von der Wüste geformten Stolz in sich tragen. In Dakla sitzen wir in einem Cafe mit W-LAN. Das Internet ist so lahm wie eine beinamputierte Schildkröte, das gibt uns Zeit für ein Gespräch mit dem freundlichen Achmed, dem der Laden gehört. Er serviert uns lausigen Kaffee und süßes Gebäck. Wir plaudern entspannt unter schattenspendenden Bäumen. Wir fragen nach einem Supermarkt, er will wissen, was wir denn so brauchen, und während wir dann unsere Mails schreiben, schwingt sich Achmed auf sein klappriges Fahrrad. Nach einer viertel Stunde ist er wieder da und überreicht uns eine Tüte mit all den Lebensmittel, die wir ihm vorher nichtsahnend aufgezählt haben. Rätselhaftes Ägypten!

 

Im White Dessert Nationalpark wühlen wir uns über feinsandige Pisten durch ein weißes Wunderland. Wind und Erosion modellierten in Jahrtausenden bizarre Steinskulpturen, die wie Pilze aus dem sandigen Boden ragen. Würden wir nicht wüstenadäquat schwitzen, könnte man fast glauben, durch eine verschneite Landschaft zu reisen. In einer schwierigen Passage graben wir Mathilda tief in den Sand ein und hängen fest. Eine Stunde mühen wir uns unter heißer Sonne, bis wir die knapp acht Tonnen wieder auf festem Boden haben. Auf solchem Terrain ist unser betuliches Fahrzeug mit seiner schwachen Motorleistung von nicht einmal 140 PS leidlich überfordert.

 

Auf der Höhe von Luxor erreichen wir wieder den Nil. Und es ist unverkennbar: hier sind wir Afrika ein gutes Stück näher gerückt. Der Rummel auf den Straßen erscheint entspannter, das Treiben sinnlicher, die Menschen wirken heiterer, kriegen ein Lächeln über die Lippen ohne dass ihnen vorher jemand die Fußsohlen kitzeln muss. Die touristischen Sensationen in Luxor liegen so zahlreich im Sand verstreut wie die Palmen entlang des trägen Nils. Karnak- Hatschepsut- und Luxortempel, Tal der Könige und Königinnen, die Kolossalstatuen von Memnon - die Liste ist ebenso unüberschaubar wie spektakulär. Und überall treffen wir auf eine aufgeräumte touristische Infrastruktur, nach der wir in Kairo vergeblich Ausschau gehalten haben.

 

Wir finden einen wunderbaren Campingplatz im Innenhof vom Mr. Rezeikys Motel. Der Ort ist beliebter Travellertreff unter Overlandern. Da stehen die verstaubten Fahrzeuge von Reisenden, deren Wege sich mit den unserigen schon teilweise seit der Türkei kreuzen: der Bulli von den Holländern Marlous und Gerard, der Defender von den Schotten Donald und Francis, der Discovery vom querschnittsgelähmten Brian, auch er ist Schotte, der Land Cruiser vom deutsch-schweizer Pärchen Mark und Brigitta - nur die Franzosen Laurant und Virginia mit ihren drei Kindern und einem Renault Truck fehlen. Sie teilen uns per Email mit, dass sie in der Oase Dakla mit Motorschaden fest hängen. Das Zusammentreffen hier ist nicht zufällig. In wenigen Tagen müssen wir alle das engste Nadelöhr auf unserer Reise in den Süden Afrikas überwinden, die Verschiffung über den Assuan Staudamm in den Sudan. Es haben sich Teams gebildet, um die Hürde in gemeinsamer Anstrengung zu meistern. Unsere Aufenthaltsgenehmigungen laufen bald ab. Wir alle müssen das Land kommende Woche wieder verlassen.

 

Ägypten hat es uns nicht immer leicht gemacht. In seinen Straßen bestimmen junge Männer mit überschäumenden Testosteronausstoß die Szene (Frauen sind von der Öffentlichkeit praktisch ausgeschlossen, mal abgesehen von Kairo). Diese Alters- und Geschlechtsgruppe findet möglicherweise in ihrem Kulturraum aus moralischen, religiösen, sozialen oder wirtschaftlichen Gründen kein Ventil, die angestauten Energien abzulassen. Das schafft eine Atmosphäre, die gelegentlich hitzig ist und gereizt und die uns (mich mehr als Sabine) manchmal schwer genervt und ermüdet hat. Überhaupt muss ich unterm Strich zugeben: Nach etlichen Wochen, in denen wir durch den arabischen Raum unterwegs sind, haben sich meine Vorbehalte gegenüber der islamischen Welt nicht in Luft aufgelöst. Ich habe durchaus den Eindruck, dass hier eine ausgeprägte und weit verbreitete Intoleranz gegenüber dem anderen Geschlecht, der anderen Lebensform, der anderen Glaubensrichtung oder dem anderen politischen Denken herrscht. Und wenn eine Religion - egal welche - einen derart großen Einfluss in alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens beansprucht, dann hab ich damit auch so meine Probleme. Allerdings weiß ich auch, dass meine Wahrnehmung gegenüber der arabischen Welt nicht nur von den Erlebnissen der zurückliegenden Wochen geformt ist, sondern auch vom Meinungsbild unseres eigenen Kulturraumes, und daher womöglich einseitig und durch professionelle Meinungsmacher manipuliert. Und noch etwas weiß ich: Am Ende zählt der persönliche, menschliche Kontakt. Neben jeder rüpelhaften Begegnung in Ägypten, Jordanien oder Syrien stand und steht sogleich auch eine, die von herzlicher Gastfreundschaft, großem Wissensdurst und selbstloser Hilfsbereitschaft geprägt ist.

 

»Was sie nicht kennen, befeinden die Menschen.« heißt es in einem arabischen Spruch, und das ist ganz zweifellos eine kulturübergreifende Wahrheit.

 


Video: Weiße Wüste