"Keyif" ist ein türkisches Wort, dass sich nicht so recht ins Deutsche übersetzen lassen will. Das Wörterbuch nennt einige Vorschläge, etwa Genuss, Lust, Unbeschwertheit, Wohlbehagen oder Enthusiasmus. Aber der gefühlten Bedeutung des Begriffs wird Langenscheid damit nicht gerecht, so wie auch Siesta mehr ist als nur Mittagsruhe. "Keyif" steht für Zeit, die Still steht, für Seele, die sich rekelt, für Gedanken, die irgendwo untergeordnet herumbaumeln. Und es steht in diesen Tagen auf unserer Agenda in Großbuchstaben ganz oben drüber:
Als wir ins Land hineinrollen, ist die Zeit noch nicht reif für "keyif". Auf den ersten Blick ist die Türkei nämlich nicht vielversprechend. Die holprige Straße passiert erstmal staubiges graues Land, die Orte stellen sich als Scheußlichkeiten aus Beton und Antennenwälder dar; wir denken mit warmer Zuneigung an Dynamit. Ernste Menschen zeigen sich nationalbewusst, das beweisen Landesflaggen an allen Ecken und Enden. Für ein Lächeln scheint da kein Platz mehr zu bleiben.
Dann stößt die Straße an die Küste und schon sind wir ein wenig versöhnt. Akdeniz, "Weißes Meer", nennen die Türken das Mittelmeer im Gegensatz zum schwarzen Meer. Es ist von der gleichen Klarheit wie eben noch in Griechenland, sein kühles Nass umspült ebenso wohltuend unsere verschwitzten Körper, sein Blau ist ebenso makellos. Was nun beginnt, ist "Buchten-Hopping" in seiner besten Form. Wir taumeln von Strand zu Strand, schmiegen uns von Meeresbusen zu Meeresbusen.
Und prompt finden wir auch zwischen den Architekturfurunkel der Küstenorte malerische, kopfsteingepflasterte Gassen mit weiß getünchten Häusern, Holzgiebeln und bunten Fensterläden. In den Häfen schaukeln Boote in den Wellen, Fischer flicken ihre Netze und ihren Fang verkaufen sie an das Restaurant nebenan, in dessen Sessel wir plumpsen und gegrillten Octopus und frische Mezze vom Feinsten essen. Und mit Verlaub: wir fragen uns schon, wie es um den vermeintlichen Ernst dieser Menschen bestellt ist, wenn sie eine schnöde Frikadelle auf ihrer Speisekarte verführerisch als Kadınbudu Köfte anpreisen, als "Frauenschenkel".
Der sinnliche, manchmal ruppige Charme der türkischen Ägäis erschließt sich uns erst allmählich, aber schließlich mit voller Wucht. Wir verbringen die Tage damit, aufs Schönste herumzuhängen, und haben dabei kein schlechtes Gewissen, obgleich die Zahl der Sehenswürdig- keiten entlang unseres Weges beträchtlich ist. Es haben ja auch viele Kulturen Ihre Spuren hier hinterlassen: die Griechen, die Phönizier, die Perser, die Heerscharen Alexanders des Großen, Byzantiner, Türken, Genueser, Venezianer, dann wieder die Türken, erneut die Griechen, und im Ersten Weltkrieg Briten und Franzosen, am Ende wieder die Türken. Hab ich was vergessen?
Die antiken Metropolen Troja, Pergamon und Ephesus verdienen einen Besuch. Ephesus kennen wir bereits. Mit Troja ist das so eine Sache. Das entpuppt sich nämlich als ein weit verstreutes Trümmerfeld, und erst der Reiseführer muss über etliche Seiten hinweg erläutern, wie das mal früher ausgesehen hat. Das Laienauge ist überfordert und unser Verlangen danach beschränkt. Bleibt also Pergamon, das sich im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. zu einem der bedeutendsten Kulturzentren des Hellenismus entwickelte. Wir flanieren durch die Akropolis und durch Mauerreste ehemaliger Königspaläste. Wir staunen über Mosaikböden, die zu den prächtigsten gehören, die je in der Türkei gefunden wurden. Aber mal ganz unter uns: antike Ruinen stehen auf unserer Hitliste nicht ganz oben.
Doch da wir uns nun schon mal Richtung Inland bewegen, fahren wir gleich weiter zur Stadt Manisa, um den nahegelegenen Nationalpark Spil-Dağı zu erkunden. Über steile Serpentinen erklimmt Mathilda gemächlich und unangestrengt Höhen von 1300 Metern. Oben in kargem Bergland finden wir auf einem Picknickplatz einen netten Ort für die Nacht. Bald wird es dunkel, die Temperaturen fallen beträchtlich, hier schleicht sich der Herbst in unsere Glieder. Gegen halb 11 steigen wir in unsere Koje und löschen das Licht. Kurz nach 11 hören wir ein Auto heranfahren, es umkreist unser Lager, und gleich darauf klopft es unmissverständlich an unsere Tür. Drei Soldaten des türkischen Militärs stehen in der Dunkelheit, Gewehre über der Schulter und sie wollen nicht mit uns über Kadınbudu Köfte plaudern, soviel ahnen wir sofort. Statt dessen verlangen sie in zackigem Ton nach unseren Pässen und es beginnt jene Machtdemonstration, wie sie alle Uniformierten zu lieben scheinen. Zwei der drei studieren in ihrem Fahrzeug unsere Papiere, der Dritte hält mit der Waffe vor uns Wache, als müsse er befürchten, dass wir das Weite suchen. Das tun wir nicht, sondern warten statt dessen frierend in der Kälte. Es wird telefoniert und debattiert, und nach endlosen Minuten kriegen wir unsere Pässe zurück und ein forsches "OK" hinterher geworfen. Wenig später ist wieder Ruhe auf dem Berg eingekehrt. Nur die Grillen surren unbeeindruckt weiter und in der Ferne jaulen Hunde. Wir finden, wir sollten wieder zurück zur Küste fahren ... .
Da bleiben wir dann auch erstmal, faulenzen an einsamen Stränden und in Cafés, manchmal wandern wir ins Land hinein. Wir sind entschleunigt, Zeit steht still, Seele rekelt sich, Gedanken baumeln irgendwo untergeordnet herum. Jetzt ist "keyif"!