In jedem Abschied, und wenn er noch so ersehnt ist, liegt immer auch Melancholie. Heute Abend kann ich ein Lied davon singen. Und ich will gar nicht ausschließen, dass das Glas Chianti neben mir den Ton angibt:
Fast Mitternacht ist es. Morgen brechen wir auf. Sabine liegt im Bett. Ob sie schläft ...? Mathilda steht abfahrtbereit vor der Haustüre. Alle Kisten sind verstaut. Papiere, Dokumente, Klamotten, Kameras, Bücher, Lebensmittel, Ersatzteile, Werkzeug, Reiseführer ... alles hat seinen Platz gefunden. Wozu eigentlich braucht's eine große Wohnung, wenn alles lebensnotwendige und - wichtige auf nicht einmal 10 qm untergebracht werden kann?
Zum Abendessen sind wir durch unser Viertel spaziert hinüber zum Griechen. Da saßen wir draußen an Biergartentischen bei herbstlichen Temperaturen. Wir tranken billigen Domestica, aßen beiläufig griechisch-deutsche Fusionsküche, waren hingerissen von der freundlichen Bedienung und lauschten dem sonoren Brummen der Abzugshaube aus der Küche, das die Straße beschallte wie ein Mantra. München war selten so liebenswert wie heute Abend. Irgendetwas an unserer Wahrnehmung kam mir da schon nicht geheuer vor!
"Was werdet Ihr vermissen?" war eine häufig gestellte Frage um uns herum in den letzten Tagen. Und noch eine: "Was zieht Euch fort?"
Das werden wir vermissen: Vertrautheit. Eine funktionierende Welt, die unsere Welt ist. Menschen, die unsere Sprache sprechen. Denen unsere Eigenheiten und Denkweisen nicht fremd sind. Freunde, die unsere Geschichte kennen. Die uns durchschauen, auch wenn sie vorgeben, es nicht zu tun. Familie, die verbindet ohne dass es eines täglichen Bekenntnisses dafür bedarf. Normalität. Gepflegte, gelangweilte Fernsehabende, während draußen deutscher Regen die Stadt in deutsches Grau versinken lässt. Die Intimität des Alltags ...
Das zieht uns fort: Neugierde. Sehnsucht. Der Blick über den Horizont. Eine ordnungslose Welt, die unsere Welt nicht ist. Menschen, die in anderen Kategorien leben. Die unsere Denkweisen als womöglich provinziell entlarven. Standorte und Standpunkte hinter uns lassen. Das Abenteuer. Ein Leben, das sich reduziert auf Weg und Rast und Essen und Schlafen, das Vergangenheit und Zukunft verblassen lässt zugunsten der Gegenwart. Das Außerkrafttreten des Alltags ...
Und damit sind wir beim Dilemma des heutigen Abends, und mein Freund Chianti gibt mir recht: Abschied steht für munteren Aufbruch ebenso wie für bitteres Loslassen. Denn was wir hinter uns lassen, ist ein Teil unserer selbst. "Wir müssen einem Leben Lebewohl sagen, bevor wir in ein anderes eintreten können." sagte mal der französische Dichter Anatole France. Und keiner beschrieb ihn schöner und hoffnungsvoller und tröstlicher, den Abschied, als Hermann Hesse:
Wie jede Blüte welkt
und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in and're, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten!
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt,
so droht Erschlaffen!
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden:
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Das lassen wir jetzt grad so stehen.
Gute Nacht und ... auf bald!